Montag, 19. März 2012

Im Osten nichts Neues

Ich habe schon länger nichts mehr geschrieben und das hat Gründe.
Erster Grund ist: Ich bin mal wieder einige Wochen ohne Laptop gewesen. Kaum zu glauben, aber ich überlebe, auch wenn es echt eine Umstellung ist und ich festegestellt habe, dass ein Großteil meiner Alternativen zur Freizeitgestalltung darauf basiert, dass ich einen Laptop nutzen kann (telefonieren, filme sehen, musik hören, chaten, emails schreiben oder einfach nur ohne Ziel rumsurfen). Lesen ist zwar von Zeit zu Zeit auch mal ganz schön, aber zwölf Stunden am Tag sind dann doch etwas zu viel, vor allem, wenn man wie ich gerade "Früchte des Zorns" von John Steinbeck liest, was auf Dauer so deprimierend ist, und zur Abwechslung nur der Blick auf die fleckige Tapete meines Zimmers oder wahlweise in den grauen Winterhimmel bleibt. Um es zusammenzufassen: Mir war häufig langweilig in den letzten Wochen.
Und damit komme ich auch schon zum zweiten Grund, warum ich in letzter Zeit nicht viel geschrieben habe: Es ist nichts passiert! Zumindest nichts Interessantes.
Mordwerkzeuge
Es wird langsam Frühling, wenn auch bis jetzt nur gefühlt. Die Tage werden länger und die Sonne scheint häufiger. Sonderbar, die üblichen Frühlingsboten zu haben und zugleich durch tiefsten Neuschnee zu stapfen bei -5°.
Seit zwei Tagen sind allerdings tagsüber selbst die Minustemperaturen Geschichte. Es taut und angesichts der Wassermassen, die alleine dieses leichte Tauen verursacht, spiele ich mit dem Gedanken mir Gummistiefel zuzulegen.
So langsam pegelt sich mein Leben hier auf ein Normalmass ein. Die extremen Temperaturen sind Vergangenheit und mit ihnen ist irgendwie auch das Aufregende am Leben in einem fremden Land gegangen. Wobei das wahrscheinlich weniger am Wetter liegt als mehr an der Tatsache, dass mittlerweile fast die Hälfte meiner Zeit hier vorüber ist und ich mich "eingelebt" habe, wie man so schön sagt. Selbst meine Arbeitswoche, die anfangs chaotisch, vollgepackt und nie vorrausplanbar war, weist mittlerweile eine gewisse Regelmässigkeit auf. Montag: Vorbereitung für die Stunden der Woche und Russisch-Kurs; Dienstag: Englisch mit den Angestellten von Chance, Break-dance (nein, ich tanze nicht, ich gehe nur zum Training) und Lingvoclub; Mittwoch: den ganzen Tag in der Schule und abends Lingvoclub; Donnerstag: Vormittags in der Schule und nachmittags Russisch-Kurs; Freitag: Vormittags an der Uni (ich weiß nicht, ob ichs schon mal geschrieben habe, aber ich bin zur Uni-Dozentin aufgestiegen), nachmittags in einem der Stadtteilhäuser von Chance und abends Lingvoclub; Samstag: sollte eigentlich frei sein, aber häufig sind irgendwelche "Events" von Chance, bei denen wir anwesend seien müssen bloß um uns zu zeigen. Wenn nichts ist, treffen Kevin und ich uns mit ein paar Mädels aus unserem Lingvoclub und sprechen Russisch. Das kling vielleicht bescheuert, aber im Alltag habe ich mittlerweile einen Kreis von Leuten um mich aufgebaut, der einigermassen Englisch spricht. Deshalb ist es eine gute Übung einfach mal so für ein paar stunden ohne Zwang und ohne Rücksicht auf Fehler russisch zu sprechen. Sonntag ist unser heiliger Tag. Egal, was für Termine anstehen, es wird abgesagt. Und das wird in der Regel auch von allen akzeptiert. Sonntags gehe ich jetzt immer mit Juri und Kevin schwimmen. In der wunderschönen Schwimmhalle "Olymp", von der ich ganz am Anfang im November schon mal geschrieben habe. Und anschließend gehen wir Eisbaden in der Wolga. Ich bin mittlerweile eine richtige Eisbade-Expertin und tauche komplett unter. Mein nächstes Ziel ist es ein paar Züge im Eiswasser zu schwimmen! Nachdem wir heute in der Wolga waren, habe ich zu Juri gesagt, dass ich das Eisbaden in Deutschland vermissen werde, weil dort keine Flüße zufrieren. Er meinte, dass ich einfach so im Winter in einen Fluß gehen könnte, selbst, wenn der nicht zugefroren ist. Im Prinzip hat er recht: Das Wasser ist auch nicht viel kälter, wenn der Fluss zugefroren ist. Aber dann habe ich mir vorgestellt, wie ich im nächsten Winter in die Oste springe, direkt neben der Brücke an der Hauptstraße, und beim Gedanken daran musste ich doch etwas schmunzeln. Immerhin hätte Sandbostel dann wieder für einen Tag ein neues Tratschthema.
Wenn ich mir jetzt meinen Wochenplan so anschaue, sieht es nach gar nicht so viel aus, aber besonders die Lingvoclubs und die Uni-Vorlesung benötigen viel Vorbereitung. Im Lingvoclub probieren wir immer wieder neue Methoden und Ideen aus um die Leute zu motivieren und einzubinden. Manches klappt gut, manches nicht so. Das ist zwar anstrengend, weil man alles selbst entwickeln muss, aber ich lerne selbst ungeheuer viel dabei. Und extrem viel Zeit geht für Reisen drauf. In der Karte, die ich vor einigen Wochen im Beitrag über Togliatti gepostet habe, sieht man wie weitläufig die Stadt ist. Und da wir überall in der Stadt arbeiten, verbringen wir Stunden in den klapprigen gelben Marshrutkas. Ich habe mir in solchen Situationen schon häufig ein Auto gewünscht, irgendeinen alten Lada oder so. Aber wenn ich dann sehe, wie zwischendurch mal einfach so eine dritte Spur aufgemacht wird, zwischen zwei Spuren überholt wird, oder die Autos über die eisig, schneebedeckten Straßen schlittern, wird mir auch immer wieder klar, dass ich in dieser Stadt wahrscheinlich nie Auto fahren könnte.
Nach dem Eisbaden in der Wolga. Hinterher ist es wirklich nicht kalt. (Mehr Fotos habe ich bei facebook reingestellt)
 Eine kleine Anekdote aus den letzten Wochen fällt mir dann doch noch ein. Am 8. März war der Frauentag, offizieller Feiertag und wirklich groß gefeiert. In der Schule wurden die Lehrerinnen mit Schokolade und Blumen überhäuft und auf dem Schulkonzert haben die fünf männlichen Kollegen (drei von ihnen Sportlehrer) ein grauenerregendes Ständchen gegeben. Das anekdotenwürdige an der Sache ist aber, mit welcher Akribik die Arbeitsfreie Zeit geplant wurde. Mir ist bei der Sache klar geworden, dass Deutschland nicht das einzige Land mit durchgeknallten Bürokraten ist. Aber urteilt selbst:
Der 8. März, der Feiertag an sich, war in diesem Jahr ein Donnerstag. In Deutschland würden in solch einem Fall viele Menschen auch den Freitag frei nehmen um in den Genuss eines verlängerten Wochenendes zu kommen. Die Idee, dass mehrere ununterbrochene freie Tage hintereinander etwas tolles sind, hatte man auch hier in Russland. Deshalb wurde auch der Freitag offiziell zum freien Tag erklärt. Klingt toll, oder? Ein Staat, der Brückentage verschenkt. Jetzt kommt allerdings der Haken: Um den freien Freitag auszugleichen, wurde der Sonntag zum offiziellen Werktag gemacht. Selbst die Schüler mussten am Sonntag in die Schule! Noch absurder war allerdings der Mittwoch vorm Frauentag in der Schule. Es gab wie gesagt, Geschenke ohne Ende und ein Frauentagskonzert (das Übliche: kleine Jungs in Anzügen und Mädchen mit gigantischen Haarschleifen singen zu Keyboardmusik aus dem off). Zusätzlich wollte man den Lehrerinnen einen verkürzten Arbeitstag schenken. Das naheliegenste wäre wohl gewesen, einfach einige Unterrichtsstunden am Nachmittag ausfallen zu lassen, aber das wäre wohl zu einfach gewesen. Anstatt einzelne Stunden komplett ausfallen zu lassen, wurden alle Unterrichtsstunden von 40 Minuten auf 30 Minuten gekürzt. Sogar die Schulglocke wurde umgestellt und hat aufgrund der kurzen Zeit laufend geklingelt. Das hat das Unterrichten praktisch unmöglich gemacht. Vierzig Minuten sind schon kurz, aber bei dreißig Minuten muss man aufhören, wenn man gerade angefangen hat.

Samstag, 3. März 2012

Wahlkampf in der Provinz

Morgen sind in Russland die Präsidentschaftswahlen und ich habe wie vor den Parlamentswahlen wieder einmal das Gefühl, dass man davon in Deutschland mindestens genauso viel mitbekommt wie hier in der russischen Provinz.
In Togliatti finden zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen die
 Bürgermeisterwahlen statt. Alexander Schachow verspricht
"Nur im Interesse Togliattis" zu handeln.
Im Fernsehen wird angeblich massiver Wahlkampf betrieben, aber Fernsehen gucke ich hier nicht. Deshalb bekomme ich nur den Wahlkampf direkt vor Ort mit. Und der ist hier in Togliatti überlagert davon, dass am 4. März ebenfalls der neue Bürgermeister gewählt wird. Den Amtsinhaber, Puschkov, habe ich nur einmal gesehen und das ironischerweise einen Tag nach den Parlamentswahlen, als er den Sieg der Kommunisten kommentiert hat. (Unsere Pressekonferenz hat genau nach seiner stattgefunden - VIPs in Togliatti ;)) Er tritt nicht noch einmal an und es gibt diverse Kandidaten, die teilweise recht aggressiven Wahlkampf betreiben. Es gibt hier einen Kandidaten von einer lokalen Partei, die sich "Dezember" nennt, der hat wirklich an jeder Haltestelle, vor jedem Einkaufszentrum, an jedem Park Leute stehen, die seine Flyer verteilen und jeden Tag ist Wahlwerbung von ihm im Briefkasten.
Ansonsten ist hier alles voll mit Wahlplakaten. An den großen, breiten Straßen gibt es überall riesige Werbeflächen. Fast so ein bisschen wie die Billboards, die man aus den amerikanischen Filmen kennt. Normalerweise wird dort das neueste Angebot von real o.ä. beworben, aber zur Zeit blicken einen überwiegend Politikergesichter an. Prochorow ist eindeutig der mit der wenigsten Werbung. Neulich habe ich ein Plakat von ihm gesehen, aber das war auch das einzige. Sehr viel auffälliger und dabei zugleich subtil einfach bewirbt sich der Nationalist Schirinowski. Einfache schwarze Plakate auf denen nur vier Wörter in großen Lettern geschrieben sind: Schirinowski oder es wird schlechter! (Ich weiß, das sind mehr als vier Wörter, aber im Russischen sind es vier) Dabei ist sein Name in weiß geschrieben und der Rest in rot. Die Plakate fallen auf jeden Fall auf unter den ganzen Gesichtern vor russischen Flaggen und Togliatti-Wappen.
Allgegenwärtig: Putin. Ihre Stimme wird für den Sieg gebraucht! (Ach wirklich?)
Wer jedoch am meisten Werbung macht ist Putin, wobei er erst recht spät angefangen hat zu plakatieren (erst vor ca. drei Wochen). Das war aber auch nicht weiter schlimm , weil bis dahin noch ausreichend Plakate von den Parlamentswahlen rumhingen, die in Aufmachung und Aussage nicht extrem anders waren (außer, dass da noch dieser komische Andere mit drauf war, der "zusammen" mit Putin arbeiten wollte - Medwedjew). Jetzt blickt aber mittlerweile von jedem dritten Plakat Putin alleine zuversichtlich schwärmerisch in die Zukunft. Wahrscheinlich wird er wohl in Togliatti die meisten Stimmen holen, auch wenn ich bis jetzt niemanden getroffen habe, der sich positiv zu Putin geäußert hat. Aber wahrscheinlich habe ich einfach kein repräsentatives Umfeld, was die politische Stimmung in Russland angeht. Ein recht interessanter Artikel über die Wahl in Togliatti findet sich bei Reuters für alle die, die Englisch sprechen.
Die einzigen, die es übrigens geschafft haben in den letzten Wochen sämtliche Politiker zusammen zu übertrumpfen, nicht nur, was die Werbung angeht, sondern auch das Interesse der Menschen und deren Gespräche, sind H&M. Die haben nämlich Ende Februar ihren ersten Laden in Togliatti eröffnet und sind aufgrund komplett-tapezierung  der Stadt mit Werbeplakaten in aller Munde. Man spricht in Zusammenhang mit H&M von einer Boutique.
Mein Lieblingsplakat: Für!   Russland   Togliatti   das Autowerk
Der, der da so lässig mit Sonnenbrille aus dem Lada Granta steigt ist Putin. Ob er wohl tatsächlich einen Lada als Privatwagen favorisiert?

Donnerstag, 1. März 2012

Die Stadt in der ich lebe

Ich wollte schon länger einen Beitrag über Togliatti schreiben, bin aber nie dazu gekommen. Heute habe ich unerwartet einen freien Tag gehabt und so viel Zeit zum Schreiben.
Stadtplan von Togliatti - zum Vergrößern anklicken

Nach mittlerweile vier Monaten hier kann ich ohne schlechtes Gewissen sagen: Togliatti ist keine schöne Stadt. Das weiß auch jeder hier und trotzdem hat sich so eine Art Lokalpatriotismus entwickelt. Klar, es gibt schöne Ecken, besonders an der Wolga, aber die haben andere Wolga-Städte auch. Zumal man in Togliatti selbst kaum was von der Wolga zu sehen bekommt (im Gegensatz zu Samara, wo es eine wunderschöne Strandpromenade gibt).
Zu erst einmal eine kleine Erklärung für alle, die keine Ahnung haben, wo Togliatti liegt. Auf jeder einigermaßen detaillierten Europa-Karte ist die Wolga eingezeichnet und man kann erkennen, dass sie an einer Stelle breiter ist; fast wie ein See. Das ist der Kuibyschewer Stausee - der größte Stausee Europas. Am nördlichen Ende liegt Kasan - meiner fußballbegeisterten Familie sicherlich aus der Champions League bekannt. Und am südlichen Ende am Staudamm liegt Togliatti. Noch etwas weiter süd-östlich liegt Samara, unsere Gebietshauptstadt (der fußballverrückten Familie sicherlich auch aus der Champions-League bekannt). Samara ist mit 1,2 mio Einwohnern etwa so groß wie München und Togliatti mit 700.000 Einwohnern weit größer als Hannover oder Bremen (beide 500.000).
Offiziell wird Togliatti in diesem Jahr 275 Jahre alt, in Wirklichkeit ist aber wohl kaum ein Gebäude in dieser Stadt älter als 50 Jahre alt. Die 275 Jahre kommen daher, dass Togliatti ursprünglich Stawropol hieß und das ursprüngliche Stawropol dort lag, wo heute der Stausee ist. Direkt am Stausee befindet sich ein Reiterdenkmal von Tatichew, dem Gründer von Togliatti. Er blickt von seinem Pferd auf die Wolga herab, was wie ich finde etwas melancholisches hat, wenn man sich vorstellt, dass er auf seine versunkene Stadt schaut. Als man den Stausee gebaut hat, hat man Stawropol an den Ufern des Sees neu aufgebaut und ist dabei sehr systematisch vorgegangen. Das heutige Togliatti ist nämlich eine komplette Plan-Stadt und sehr praktisch aufgebaut (zumindest, wenn man ein Auto hat).
Zunächst wurde in den 50er Jahren der Stadtteil Komsomolski gebaut. Hier haben die Schleusen-Bauarbeiter gelebt und hier leben noch heute die Wasserkraft-Mitarbeiter. Ein Teil dieses Stadtteils heißt heute Schliusawoi (kommt vom deutschen Schleuse), weil er direkt an der Schleuse liegt. Angeblich ist es der soziale Brennpunkt der Stadt mit viel Kleinkriminalität, was vielleicht auch erklärt, warum Chance dort ein Jugendhaus hat. Mir kommt es allerdings nicht sehr gefährlich vor.
Der zweite Stadtteil, der in den 60er gebaut wurde, ist die alte oder zentrale Stadt. Direkt an ihn angeschlossen ist ein Gewerbegebiet mit Chemie Fabriken. Der Stadtteil ist so konzipiert, dass der Wind die Abgase aus der Fabrik von der Stadt und der Wolga wegträgt. In der alten Stadt sind auch das Rathaus, die Universität und das zentrale Büro von Chance. Außerdem gibt es hier vergleichsweise viele Cafes und Restaurants.
Der jüngste Stadtteil, in dem ich lebe, ist die neue Stadt oder auch Awtosawodtzki (Автозаводский). Übersetzt heißt das "Autofabrik", womit ich auch bei dem angekommen wäre, wofür Togliatti bekannt ist (zumindest in Russland,  außerhalb kennt man es nämlich eher nicht): Autos - genauer gesagt Ladas. Hier ist nämlich der Hauptsitz von AwtoWAS, dem Lada Produzentem angesiedelt. Zeitgleich mit dem Autowerk wurde in den 60ern die neue Stadt gebaut. Auch wieder so gelegen, dass die Abgase gut abziehen können.
Die ganze Stadt nach diesen praktischen Gesichtspunkten angelegt: Es gibt breite Straßen, viele Grünflächen,  einen großen Wald im Zentrum, der unter Naturschutz steht, Wohngebiete und Fabriken sind klar voneinander getrennt, die Wohnungen sind nah am zugehörigen Arbeitsplatz gelegen. Es gibt nur einen kleinen Denkfehler: zwischen den Stadteilen gibt es praktisch nur zwei Verbindungsstraßen, die in Stoßzeiten immer verstopft sind.
Die gesamte Stadt ist in Quadraten angelegt. Ich zum Beispiel wohne im zweiten Quartal. Was die Stadt auf der Karte recht strukturiert aussehen lässt, ist in Hinsicht auf die Orientierung der reinste Horror. Alles sieht gleich aus! Nur Plattenbauten, gerade Straßen (mal breiter mal schmaler) und Kreuzungen. Ab und zu mal ein Einkaufszentrum zur Orientierung, ansonsten habe ich mich nur Anhand von Kreisverkehren orientiert. Mich beruhigt, dass selbst langjährige Togliattianer zugeben manchmal noch Orientierungsprobleme zu haben (besonders in der Marschrutka).
AwtoWAS ist mehr als nur eine Fabrik für Togliatti. Es ist wichtigster Arbeitgeber, Symbol der Stadt (eine der größten "Sehenswürdigkeiten" ist eine Statue mit dem Lada-Logo auf einem Kreisverkehr), Identifikationsfigur und Sponsor für soziale Projekte und der lokalen Vereine (Lada Togliatti - Eishockey, Handball, Fußball). Es gibt Lada-TV und Lada FM, den Radiosender. Die deutsche Partnerstadt von Togliatti ist Wolfsburg, was glaube ich eine ganz gute Wahl ist. Deshalb schließt man sich hier in Togliatti zwar auch der allgemeinen Meinung an, dass der Lada das schlechteste Auto ist, das je gebaut wurde, ist sich insgeheim aber bewusst, dass die Stadt ohne AwtoWAS nicht existieren könnte.
Das größte Autowerk des Landes zu beherbergen bedeutet in Russland aber auch: Korruption und Gewalt. In den 90er und 00er Jahren gab es hier einen wahren Krieg um die Vorherrschaft bei WAS. Insgesamt wurden in dieser Zeit mehr als 500 Menschen ermordet, darunter mehrere kritische Journalisten und ein ehemaliger Bürgermeister. Was mich jedoch am meisten erschüttert hat, ist eine andere Geschichte. Mir ist schon von Anfang an aufgefallen, dass hier überall in den Schulen und in den Marschrutkas Anweisungen hängen, wie man sich bei einem Terroranschlag verhalten soll. Ich dachte immer, das wäre wegen der vielen Anschläge in Moskau. Dann wurde mir allerdings erzählt, dass es 2007 auch in Togliatti einen Anschlag gab. Ein Bus ist in der nähe der Universität explodiert. Dabei sind 8 Menschen gestorben und 45 verletzt worden, darunter viele Studenten. Offiziell gilt ein Student, der bei dem Anschlag ums Leben gekommen ist, als der alleinige Täter. Viele glauben aber, dass er nur der Strohmann ist.
Korruption, Gewalt und Mafia-Gangs gibt es angeblich immer noch, aber davon bekomme ich natürlich nichts mit. Neulich haben wir im LingvoClub über Vor- und Nachteile von Togliatti diskutiert. Ein Mädchen nannte als Plus-Punkt, dass Togliatti so sicher ist, worauf ihr gleich alle entgegenhielten, dass die Stadt den dritten Platz in der Kriminalstatistik einnimmt (nach Moskau und St-Petersburg). Sie hat dagegen gehalten, dass sie sich sicher fühlt und mir geht es genauso. Wenn ich durch den weißen frischen Schnee laufe, vorbei am Spielplatz, kommt es mir nicht vor, als wenn ich in einer kriminellen Umgebung wäre. Und ich bin auch schon nachts alleine unterwegs gewesen. Wobei ich zugeben muss, dass ich mich dabei nicht ganz so sicher gefühlt habe wie in Sandbostel ;)

Feiertage

Die jetzigen Wochen sind gepflastert mit Feiertagen. In der letzten Woche hatten alle Schüler Schulfrei, weil das zweite Trimester in der Schule beendet ist. 
Maslenitza im LingvoClub
Gleichzeit wurde auch die ganze Woche über Maslenitza gefeiert. Das ist die letzte Woche vor der Fastenzeit und sie wird traditionell mit fettigem Essen, besonders Blini (блины), russische Pfannkuchen gefeiert. Maslenitza kommt nämlich von Masla (Butter). Wir als Ausländer wurden natürlich zu sämtlichen Feiern eingeladen. Ich habe insgesamt vier Mal Maslenitza gefeiert und an fünf Tagen Blini gegessen. Hier in Russland sind Blini-Schnellrestaurants sehr beliebt. Die erinnern von der Aufmachung ein bisschen an Mc-Donalds, mit Bestelltheke, Menü an der Wand und Tabletts, es gibt aber ausschließlich russisches Essen, vor allem Blini. Teil einer Maslenitza-Feier ist es auch, dass man am Ende eine Puppe verbrennt. Die symbolisiert den Winter, der vertrieben wird. Am Sonntag habe ich bei -8°C und dem schönsten Schneesturm einer Puppenverbrennung beigewohnt, was leicht paradoxe Züge hatte. Aber es wird tatsächlich langsam wärmer. Es schneit wieder mehr, was zeigt, dass es wärmer als -10° ist, gestern waren es sogar 0° und ich kann endlich wieder ohne lange Unterhose und in meiner eigenen Winterjacke aus dem Haus gehen.
Pfannkuchen für alle!
In die Reihe der Feiertage, die mich nicht sonderlich begeistern, die ich aber schätze, weil sie einen freien Arbeitstag bedeuten, gehört der 23. Februar: Der Tag der Verteidiger des Vaterlands - oder etwas einfallsloser: Männertag. Im Prinzip ist dieser Tag auf einer Ebene angesiedelt mit Valentinstag oder Muttertag. Man macht nämlich allen Männern Geschenke (und teilweise recht teure!). Hinzu kommt eine etwas verquere Romantik über Krieg und Soldatentum. Der Höhepunkt war, dass wir diesen Feiertag in unserem Lingvoclub feiern mussten. Der Lingvoclub ist dazu da in lockerem Umfeld Englisch zu lernen. Dazu gehört auch, dass wir das eine oder andere Fest feiern. Aus der Planung für den Vaterlandsverteidiger-Tag habe ich mich aus besagter Antipathie gegenüber des Tages schnell verabschiedet. Ich musste dann mit ansehen, wie Elina, unsere Russische Kollegin, in einem Kakhi-farbenen Kleid im Army-Style eine Power-Point-Präsentation mit Tarnfleck-Hintergrund über den "idealen Mann" gehalten hat.
Nächsten Donnerstag wird übrigens der Welt-Frauentag gefeiert. Es gibt wieder einen freien Tag und auch wieder Geschenke. Aber immerhin hat dieser Tag die Gleichstellung von Mann und Frau als Hintergedanken.

Sie brennt! - Der Winter ist vorbei...

...oder auch nicht. In den letzten Tagen schneit es wieder häufiger

Das ewige Eis herausgeschlagen aus den Gehwegen: Wie bei Jahresringen in einem Baumstamm sieht man, wann es geschneit und getaut hat.