Donnerstag, 1. März 2012

Die Stadt in der ich lebe

Ich wollte schon länger einen Beitrag über Togliatti schreiben, bin aber nie dazu gekommen. Heute habe ich unerwartet einen freien Tag gehabt und so viel Zeit zum Schreiben.
Stadtplan von Togliatti - zum Vergrößern anklicken

Nach mittlerweile vier Monaten hier kann ich ohne schlechtes Gewissen sagen: Togliatti ist keine schöne Stadt. Das weiß auch jeder hier und trotzdem hat sich so eine Art Lokalpatriotismus entwickelt. Klar, es gibt schöne Ecken, besonders an der Wolga, aber die haben andere Wolga-Städte auch. Zumal man in Togliatti selbst kaum was von der Wolga zu sehen bekommt (im Gegensatz zu Samara, wo es eine wunderschöne Strandpromenade gibt).
Zu erst einmal eine kleine Erklärung für alle, die keine Ahnung haben, wo Togliatti liegt. Auf jeder einigermaßen detaillierten Europa-Karte ist die Wolga eingezeichnet und man kann erkennen, dass sie an einer Stelle breiter ist; fast wie ein See. Das ist der Kuibyschewer Stausee - der größte Stausee Europas. Am nördlichen Ende liegt Kasan - meiner fußballbegeisterten Familie sicherlich aus der Champions League bekannt. Und am südlichen Ende am Staudamm liegt Togliatti. Noch etwas weiter süd-östlich liegt Samara, unsere Gebietshauptstadt (der fußballverrückten Familie sicherlich auch aus der Champions-League bekannt). Samara ist mit 1,2 mio Einwohnern etwa so groß wie München und Togliatti mit 700.000 Einwohnern weit größer als Hannover oder Bremen (beide 500.000).
Offiziell wird Togliatti in diesem Jahr 275 Jahre alt, in Wirklichkeit ist aber wohl kaum ein Gebäude in dieser Stadt älter als 50 Jahre alt. Die 275 Jahre kommen daher, dass Togliatti ursprünglich Stawropol hieß und das ursprüngliche Stawropol dort lag, wo heute der Stausee ist. Direkt am Stausee befindet sich ein Reiterdenkmal von Tatichew, dem Gründer von Togliatti. Er blickt von seinem Pferd auf die Wolga herab, was wie ich finde etwas melancholisches hat, wenn man sich vorstellt, dass er auf seine versunkene Stadt schaut. Als man den Stausee gebaut hat, hat man Stawropol an den Ufern des Sees neu aufgebaut und ist dabei sehr systematisch vorgegangen. Das heutige Togliatti ist nämlich eine komplette Plan-Stadt und sehr praktisch aufgebaut (zumindest, wenn man ein Auto hat).
Zunächst wurde in den 50er Jahren der Stadtteil Komsomolski gebaut. Hier haben die Schleusen-Bauarbeiter gelebt und hier leben noch heute die Wasserkraft-Mitarbeiter. Ein Teil dieses Stadtteils heißt heute Schliusawoi (kommt vom deutschen Schleuse), weil er direkt an der Schleuse liegt. Angeblich ist es der soziale Brennpunkt der Stadt mit viel Kleinkriminalität, was vielleicht auch erklärt, warum Chance dort ein Jugendhaus hat. Mir kommt es allerdings nicht sehr gefährlich vor.
Der zweite Stadtteil, der in den 60er gebaut wurde, ist die alte oder zentrale Stadt. Direkt an ihn angeschlossen ist ein Gewerbegebiet mit Chemie Fabriken. Der Stadtteil ist so konzipiert, dass der Wind die Abgase aus der Fabrik von der Stadt und der Wolga wegträgt. In der alten Stadt sind auch das Rathaus, die Universität und das zentrale Büro von Chance. Außerdem gibt es hier vergleichsweise viele Cafes und Restaurants.
Der jüngste Stadtteil, in dem ich lebe, ist die neue Stadt oder auch Awtosawodtzki (Автозаводский). Übersetzt heißt das "Autofabrik", womit ich auch bei dem angekommen wäre, wofür Togliatti bekannt ist (zumindest in Russland,  außerhalb kennt man es nämlich eher nicht): Autos - genauer gesagt Ladas. Hier ist nämlich der Hauptsitz von AwtoWAS, dem Lada Produzentem angesiedelt. Zeitgleich mit dem Autowerk wurde in den 60ern die neue Stadt gebaut. Auch wieder so gelegen, dass die Abgase gut abziehen können.
Die ganze Stadt nach diesen praktischen Gesichtspunkten angelegt: Es gibt breite Straßen, viele Grünflächen,  einen großen Wald im Zentrum, der unter Naturschutz steht, Wohngebiete und Fabriken sind klar voneinander getrennt, die Wohnungen sind nah am zugehörigen Arbeitsplatz gelegen. Es gibt nur einen kleinen Denkfehler: zwischen den Stadteilen gibt es praktisch nur zwei Verbindungsstraßen, die in Stoßzeiten immer verstopft sind.
Die gesamte Stadt ist in Quadraten angelegt. Ich zum Beispiel wohne im zweiten Quartal. Was die Stadt auf der Karte recht strukturiert aussehen lässt, ist in Hinsicht auf die Orientierung der reinste Horror. Alles sieht gleich aus! Nur Plattenbauten, gerade Straßen (mal breiter mal schmaler) und Kreuzungen. Ab und zu mal ein Einkaufszentrum zur Orientierung, ansonsten habe ich mich nur Anhand von Kreisverkehren orientiert. Mich beruhigt, dass selbst langjährige Togliattianer zugeben manchmal noch Orientierungsprobleme zu haben (besonders in der Marschrutka).
AwtoWAS ist mehr als nur eine Fabrik für Togliatti. Es ist wichtigster Arbeitgeber, Symbol der Stadt (eine der größten "Sehenswürdigkeiten" ist eine Statue mit dem Lada-Logo auf einem Kreisverkehr), Identifikationsfigur und Sponsor für soziale Projekte und der lokalen Vereine (Lada Togliatti - Eishockey, Handball, Fußball). Es gibt Lada-TV und Lada FM, den Radiosender. Die deutsche Partnerstadt von Togliatti ist Wolfsburg, was glaube ich eine ganz gute Wahl ist. Deshalb schließt man sich hier in Togliatti zwar auch der allgemeinen Meinung an, dass der Lada das schlechteste Auto ist, das je gebaut wurde, ist sich insgeheim aber bewusst, dass die Stadt ohne AwtoWAS nicht existieren könnte.
Das größte Autowerk des Landes zu beherbergen bedeutet in Russland aber auch: Korruption und Gewalt. In den 90er und 00er Jahren gab es hier einen wahren Krieg um die Vorherrschaft bei WAS. Insgesamt wurden in dieser Zeit mehr als 500 Menschen ermordet, darunter mehrere kritische Journalisten und ein ehemaliger Bürgermeister. Was mich jedoch am meisten erschüttert hat, ist eine andere Geschichte. Mir ist schon von Anfang an aufgefallen, dass hier überall in den Schulen und in den Marschrutkas Anweisungen hängen, wie man sich bei einem Terroranschlag verhalten soll. Ich dachte immer, das wäre wegen der vielen Anschläge in Moskau. Dann wurde mir allerdings erzählt, dass es 2007 auch in Togliatti einen Anschlag gab. Ein Bus ist in der nähe der Universität explodiert. Dabei sind 8 Menschen gestorben und 45 verletzt worden, darunter viele Studenten. Offiziell gilt ein Student, der bei dem Anschlag ums Leben gekommen ist, als der alleinige Täter. Viele glauben aber, dass er nur der Strohmann ist.
Korruption, Gewalt und Mafia-Gangs gibt es angeblich immer noch, aber davon bekomme ich natürlich nichts mit. Neulich haben wir im LingvoClub über Vor- und Nachteile von Togliatti diskutiert. Ein Mädchen nannte als Plus-Punkt, dass Togliatti so sicher ist, worauf ihr gleich alle entgegenhielten, dass die Stadt den dritten Platz in der Kriminalstatistik einnimmt (nach Moskau und St-Petersburg). Sie hat dagegen gehalten, dass sie sich sicher fühlt und mir geht es genauso. Wenn ich durch den weißen frischen Schnee laufe, vorbei am Spielplatz, kommt es mir nicht vor, als wenn ich in einer kriminellen Umgebung wäre. Und ich bin auch schon nachts alleine unterwegs gewesen. Wobei ich zugeben muss, dass ich mich dabei nicht ganz so sicher gefühlt habe wie in Sandbostel ;)

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