Ich habe lange nichts mehr geschrieben und das hat Gründe. Zum einen war ich für eine Woche in Deutschland. Inklusive Reisezeit war ich insgesamt zehn Tage nicht in Togliatti und hatte deshalb auch nicht viel aus Russland zu berichten. Zum anderen ist hier jetzt wirklich Sommerwetter und ich verbringe jede freie Minute draußen, wo das Schreiben am Laptop etwas schwer fällt.
Heute war auch so ein Tag: Im Museum, in dem wir einen unserer Englisch-Clubs veranstalten, war "Museum Picknick". Dabei wird die gesamte Straße vor dem Museum abgesperrt, es gibt Konzerte, Kunstausstellungen, Tanzvorführungen und alle sozialen Institutionen, Vereine und Initiativen stellen sich vor. Alles in Allem ein echtes Event in einer kulturell eher armen Stadt wie Togliatti. Wir haben im Winter selbst zum Winter-Museumspicknick beigetragen, diesmal waren wir allerdings nur als Gäste dabei. Wir haben uns alles angeguckt, mit Bekannten geredet (mitlerweile habe ich das Gefühl, dass ich egal, wo ich hingehe, immer bekannte Leute treffe) und entspannt in der Sonne gesessen. Der Titel des Eintrags (der übrigens Kevins Idee ist) deutet vielleicht schon an, dass es nicht so harmonisch geendet hat.
Am Nachmittag habe ich mich gemeinsam mit Martin, Kevin und Anton, einem russischen Freund, auf die Suche nach einem Cafe gemacht. Wir waren in der alten Stadt, einem Stadtteil, in dem wir uns nicht so gut auskennen, und sind deshalb etwas orientierungslos durch die Gegend gelaufen. Und dann ist eine meiner größten Ängste wahr geworden. Meine Rumänien-Mitstreiter werden sich vielleicht daran erinnern, dass ich immer einen gewissen Vorbehalt gegenüber der Stabilität von Metall hatte - egal ob als Brücke, Gullydeckel oder Kellerlochabdeckung, alles erscheint mir immer rostig und kurz vorm Einbruch zu stehen.
Das mit dem Einbruch hatte der Gullydeckel, mit dem ich heute Bekannschaft gemacht habe, schon hinter sich (das einzige Tröstliche, sonst hätte ich mich wahrscheinlich noch fett gefühlt). Er bestand aus mehreren senkrechten Metallstreben, die in der Mitte von einer waagerechten Strebe stabilisiert wurden. Eine halbe senkrechte Stange war herausgebrochen. Kein großes Loch, aber groß genug, dass mein Fuß reingepasst hat und ich bis über das Knie drin versinken konnte. Mein erster Gedanke: "Du hast dir jetzt entweder das Bein gebrochen oder sämtliche Bänder gerissen." Der zweite Gedanke hat mir dann allerdings gesagt, dass sich mein Bein relativ unversehrt anfühlt. Deshalb habe ich auch alles daran gesetzt meine motivierten Retter, die mich dem Loch entreißen wollten, von ihrem Vorhaben abzuhalten, weil ich das Gefühl hatte, dass sie vollenden könnten, was das Loch nicht geschafft hat. Ich habe mich also selbst vorsichtig befreit. Ich stand so unter Strom, dass ich keine Schmerzen gespürt habe, allerdings hat mich der Anblick meiner eigenen Beine in eine Art Schockzustand versetzt: Staubig, blutverschmiert, überall Abschürfungen und das rechte Knie hatte der Rest der abgebrochenen Eisenstange aufgerissen.
Glücklicherweise bin ich nicht alleine unterwegs gewesen: Martin, immer gut ausgerüstet, hat mir Papierservietten gegeben, die ich mir aufs Knie halten konnte. Es hat zwar nicht stark geblutet, aber immerhin musste ich es mir so nicht mehr ansehen. Kevin hat mich beruhigt und mir immer wieder eingeredet, dass das im Knie wirklich nur eine Fleischwunde ist und ich mir nicht die Kniescheibe aufgeritzt haben kann, weil die noch tiefer im Knie liegt. Und Anton hat den Weg zum nächsten Krankenhaus herausgefunden. Ein Autofahrer hat angehalten und mich zum Krankenhaus gefahren. Eigentlich war die Krankenhaus-Erfahrung eine, die ich mir immer ersparen wollte, aber jetzt ließ es sich ja nicht mehr vermeiden. Und so schlimm war es dann doch nicht. Das Gebäude war typisch für russische staatliche Einrichtungen: etwas herungergekommen, spärliche Einrichtung, schiefe Holztüren, alte, doppelte Fenster, dunkle Flure. Auf dem Weg zum Behandlungszimmer bin ich ausversehen ins "Eingips-Zimmer" gelaufen und war erneut froh, dass ich mir nichts gebrochen habe. Im "OP-Saal", in dem ich behandelt wurde, war wirklich nichts außer einer klapprigen, viel zu hohen Liege und einem Scheinwerfer. Meine Schuhe musste ich ausziehen, meine Begleiter mussten draußen bleiben und auf den OP-Tisch wurde ein (hoffentlich) steriles Tuch ausgebreitet. Das war es dann allerdings schon mit den Hygienemaßnahmen. Vom Gang her konnte jeder in das Zimmer gucken, weil die Tür nicht richtig geschlossen hat, und während ich auf dem Tisch lag und es nicht gewagt habe, in Richtung Knie zu schauen, konnte ich die Falter um die Lampen schwirren sehen.
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Überlebende des russichen Gully-Lochs |
Was mich allerdings etwas beruhigt hat, war das Krankenhauspersonal. Die Rezeptionsfrau war für russiche Verhältnisse außergewöhnlich freundlich und schnell und hat sich mit meiner Visums-Kopie als Dokument zufrieden gegeben (alle anderen Dokumente sind bei Registrierungsbehörde, weil ich ja gerade erst wieder in Russland bin). Die Krankenschwester hat gelächelt und beruhigend auf mich eingeredet. Und der Arzt wirkte vertrauenswürdig, weil er alt genug war um seine Ausbildung noch in der Sowjetunion abgeschlossen haben zu können (aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass die Mediziner-Ausbilung in den sozialistischen Staaten ziemlich gut war) und noch nicht so alt, dass er schon blind und zittrig ist.
Ich habe wie gesagt nicht gewagt den Arzt bei seiner Arbeit zu beobachten und aufgrund der Betäubung habe ich auch nichts mitbekommen außer eines unangenehmen Zerrens und Drückens. Kevin, der vom Flur aus reinschauen konnte, hat mir bestätigt, dass mein Knie genäht wurde.
Mittlerweile ist es Nacht, Russland ist Weltmeister im Eishockey, vor meinem Fenster wird gefeiert, die Betäubung ist verklungen und die Schmerzen sind spürbar. Das Knie scheint, nach dem zu urteilen, was unter dem Verband hervorschaut, blau und geschwollen zu sein, die Abschürfungen brennen. Ich soll täglich zur Nachuntersuchung ins mein nächstgelegenes Krankenhaus. Anton wird mich begleiten, wenigstens morgen. Etwas frustiert bin ich, weil mir dieses Knie jetzt den Start in den den Sommer versaut, aber immerhin bin ich um eine Erfahrung reicher.