Ich habe versucht die letzten drei Wochen nach dem Camp noch einmal in vollen Zügen zu genießen und möglichst wenig Gedanken auf die Zeit danach zu verschwenden (soweit das geht, wenn man nebenbei nach Stelle Ausschau hält und Bewerbungen schreibt).
Ich bin viel am Strand gewesen, auch wenn die Wolga durch Algen im Moment grüner ist als der Chicago River am St. Patrick's Day. Meine Sonnenbrände sind nicht mehr ganz so extrem; man kann sagen, dass ich etwas Farbe bekommen habe. Zwei mal waren wir in der Datscha einer Freundin eines Freundes. So läuft das hier in Russland: Ich kannte Lena (so heißt die Besitzerin der Datscha) vorher nicht und kam mir ein bisschen wie ein Eindringling vor, also wir zum ersten Mal bei ihr aufgeschlagen sind, aber beim zweiten Mal fühlte es sich schon an wie zu Hause. Die Datscha ist super gelegen - nur ca. 100 m von der Wolga entfernt - und erinnert an ihrer Herausgeputztheit ein Wenig an Deutschland, wenn da nicht die Banja im Garten wäre. Die haben wir dann auch intensiv genutzt. Es gibt nichts Schöneres als aus der Banja direkt in die Wolga zu springen und im Mondschein zu schwimmen.
Grüne Wolga |
Zwei Tage lang waren Kevin und ich noch in Kazan. Wir haben es bereits seit unserer Ankunft geplant, aber immer wieder ist etwas dazwischen gekommen; Arbeit, Geburtstage, das Wetter, die eigene Antriebslosigkeit, die Fußball-EM. Um allen Leuten, die Kazan immer für unser Luftschloss gehalten haben, das Gegenteil zu beweisen, haben wir uns dann letztendlich doch auf den Weg gemacht. Sechs Stunden mit dem Bus (im Vergleich zu unseren 14 Stunden Nizhny Novgorod ein Klacks) immer entlang unseres Wolga-Stausees (Togliatti und Kazan bilden die beiden Endpunkte des Kuibyschewer Stausees). Ich habe es glaube ich schon häufiger geschrieben und es ist unvorstellbar, wenn man es nicht selber gesehen hat, aber manchmal hat man das Gefühl, dass das kein Fluss mehr ist, an dem man dort entlangfährt, sondern eher die Ostseeküste oder so. Besonders in der Nähe von Kazan, wo die Kama in die Wolga mündet, blickt man teilweise auf 30-40km Wasser.
Ein letzes Mal Wolga in Togliatti |
Kazan ist die Haupstadt der Republik Tatarstan. Nein, das ist kein Hackfleischsteak sondern eine der vielen Russischen Nationalitäten. Die Tataren sind kein Fantasievolk sondern existieren wirklich und in ziemlich großer Zahl. Da die Tataren muslimisch sind, ist auch Kazan mit 70% tatarischer Bevölkerung stark muslimisch geprägt. So konnten wir im Kreml die größte Moschee Europas bestaunen. Es gibt einer Stadt gleich ein anderes Flair, wenn statt Kirchtürmen Minarette in den Himmel ragen. Wir haben ironischerweise die zwei einzigen kalten Regentage seit zwei Monaten für unsere Reise gewählt, aber so war ich wenigstens angemessen gekleidet für unser Moschee-Sigthseeing.
Größte Moschee Europas in Kazan |
Seit drei Tagen bin ich jetzt in den konkreten Rückreisevorbereitungen und auch schon in der Vorbereitung auf das Workcamp, in das ich nach nur einem Tag Pause fahre. Mittlerweile lässt sich nicht mehr leugnen, dass ich Russland bald verlasse und ich kämpfe bis jetzt noch erfolgreich gegen die Melancholie an, die sich einzustellen droht. Wieder alles packen, sich von Dingen und Gewohnheiten trennen, Erinnerungsstücke entsorgen, die jemand mit festem Wohsitz wahrscheinlich 20 Jahre aufbewahren würde, Dinge ein letzes Mal machen, Wege ein letzes Mal gehen (das letzte Mal einkaufen, das letzte Mal Banja, das letzte Mal Wolga). Die Ungewissheit wo es danach hingeht. Und was am Schlimmsten ist: Wieder mal Abschied nehmen von Freunden, die man gerade erst gewonnen hat. Klar, ich habe mittlerweile Freunde auf der ganzen Welt, aber manchmal ist es auch ganz schön Freunde vor Ort zu haben.
Bevor ich jetzt zu sentimental werde lieber auf die schönen Seiten blicken. Ich glaube es war absolut die richtige Entscheidung hier herzukommen. Ich habe Russland ein gutes Stück besser kennengelernt, eine neue Sprache in Ansätzen gelernt und durch meine Aufgaben hier viel dazugelernt.
Bleibt nur noch die Frage zu beantworten, was ich aus Russland mitnehme. Immateriell ziemlich viel. Materiell grenzen mich die Gepäckbeschränkungen mal wieder extrem ein. So bleibt nur Platz für eine Auswahl meiner schönsten Kühlschrankmagneten, zwei Flaschen Wodka und drei Packungen russische Aspirin (nicht gegen den Kater vom Wodka sondern weil die so extrem billig sind: 4 Rubel (10cent) pro zehner-Packung!)