Montag, 16. April 2012

Leben in der Chinesischen Mauer

Ich habe in meinen früheren Beiträgen ja schon mal anklingen lassen, dass Togliattis Baustil nicht sonderlich ausgefallen ist. Freundlich könnte man das ganze in etwa so ausdrücken: Neo-Kommunistischer Baustil verleiht der Stadt den Flair der 60er und 70er Jahre. Nicht so freundlich klingt es dann eher so: Die Stadt ist eine industrielle Planstadt, die aus Plattenhausblöcken besteht, in denen alle Häuser gleich aussehen.
Das Haus, in dem ich lebe, weicht vom Stil her nicht von den anderen Gebäuden ab. Es ist allerdings riesig laaaaaaaaaaannnnnnnnnngggggg. Ich bin nicht besonders gut im Distanzen einschätzen, aber ich würde es auf ca. 200-300m taxieren. Meine Anhaltspunkte dafür sind folgende:
  • entlang des Hauses finden eine Schule, ein Kindergarten, ein Spielplatz, ein Sportplatz und eine Eislauffläche Platz finden
  • an mehreren Stellen ist das Geäude über die Straße gebaut bzw. die Straße führt durch das Gebäude
  • Wir wohnen in der 465. Wohnung im 14. Eingang - und wir liegen irgendwo in der Mitte
Man kennt das Haus in unserem Block auch als die Chinesische Mauer (kein Scherz!). Ich weiß zwar nicht, ob man es aus dem Weltall aus erkennen kann, aber auf Karten oder in google earth hat man keinerlei Probleme es zu erkennen. Noch eine interessante Sache ist, dass das Haus praktisch eine klimatische Grenze bildet. Auch das ist wieder kein Scherz! Mein Fenster liegt zu Süd-Südost Seite hinaus, wo die Sonne den ganzen Tag über scheint. Der Eingang liegt in Richtung Norden. Hier kommt die Sonne nie hin und das Haus wirft dazu noch einen großen Schatten. Während es also auf der einen Seite vollkommen warm und trocken ist, ist die Straße auf der anderen Seite noch im Wasser versunken und es finden sich noch vereinzelte Schneereste (und das trotz drei Wochen Tauwetter und zuletzt tagelang 20° und Sonnenschein).
Unser Block ist im übrigen glaube ich ein ziemlicher Assi-Block. Schon im Winter sind uns die Werbekampagnen gegen Drogen- und Alkoholkonsum aufgefallen und unsere Gasttante hat immer von den наркоман (Narkoman = Drogenabhängiger) gesprochen, vor denen wir uns in acht nehmen sollen. Im Winter hat man von denen nicht so viel mitbekommen, aber je wärmer es wird, desto mehr begreife ich, was sie gemeint hat. Aber zur Beruhigung von Oma, Papa und allen anderen, die jetzt wahrscheinlich wieder Angst um mich bekommen: Ich wohne sicher! Die Haustür ist mit einem elektronischem Sicherheitsschloss gesichert (so eines, wie wir es zuletzt auch in Rumänien hatten). Auch Wohnungstür hat so ein Schloss, wie in Rumänien (vier dicke Bolzen) - und das ist nur das eine Schloss: darunter ist noch ein zweites Schloss mit dickem Metallriegel. Und das war wiederum nur die eine Tür: nach ca. einem halben Meter kommt die zweite Tür, auch noch mal mit schwerem Schloss. 


Noch eine kleine Bemerkung aus der Reihe: Morgen sollen es 25-27°C werden! Summer Feeling! Ich laufe schon seit Tagen im T-shirt rum und erwarte sehnlichst den Mai, in dem ich endlich meine Sommerkleidung hier her schaffe.

Mittwoch, 11. April 2012

Frühling? Fehlanzeige!

Nach dem heutigen Tag bin ich fest davon überzeugt, dass es in diesem Land nur zwei Jahreszeiten gibt: Winter und Sommer.
Bis vor drei Wochen habe ich noch geglaubt, dass der Winter nie vorrüber gehen wird. Meterhoher Schnee und zehn zentimeter breite festgetrampelte Eisflächen überall, einmal pro Woche 10-15 cm Neuschnee und  Temperaturen, die seit Dezember die Null-Grad-Grenze nicht mehr überschritten haben. Doch dann fing es tatsächlich an zu tauen. Zuerst nur, weil die Sonne so stark geschienen hat, dass der Schnee trotz Minusgraden geschmolzen ist, doch bald waren es tagsüber 2-3 Grad. Die Schneemassen sind geschmolzen - zuerst langsam und dann immer schneller. Zwei Wochen lang war die Stadt ein einziger Teich, weshalb ich 450 Rubel  (ca. 10 Euro) in ein Paar wunderschöne, runtergesetzte Kindergummistiefel (die Vorteile von Schuhgröße 38) investiert habe.
Der Teich vor unserer Haustür

Und mit dem schmelzenden Schnee habe ich eine neue Stadt entdeckt. Eigentlich kenne ich Togliatti gar nicht ohne Schnee. Fünf Tage nach dem wir angekommen sind, hat es das erste Mal geschneit und seitdem ist der Schnee nicht mehr getaut. Auf einmal kommen Gehwege zum Vorschein, wo ich nie welche erwartet hätte, Bänke, die Unter dem Schnee begraben waren, die Umrandungen von Gärten neben den Häusern und Auf dem freien Feld neben unserem Haus ist eine Rennbahn. Es ist aber leider auch der Dreck von einem halben Jahr wieder zum Vorschein gekommen. Kaputte Flaschen, der Lehm, der im Winter auf das Eis gestreut wurde, Müll, Äste, die dem Schnee nicht standgehalten haben, Zigarettenkippen und Unmengen an Hundescheiße. Die Straßen sind aufgeplatzt und mit Schlaglöchern überseht, die Asphaltbrocken liegen in der Gegend verteilt herum.  In den nobleren Vierteln der Stadt ist der Dreck mittlerweile schon geräumt worden. Die nicht so noblen Viertel, zu denen unseres anscheinend zählt, gleichen einem Kriegsschauplatz - grau, trostlos und mit Trümmern überseht.

Mit meinen neuen Gummistiefeln im Scheematsch
Aber jetzt dazu, wie ich darauf komme, dass es hier keinen Frühling gibt. Bis zur letzten Woche war es hier wirklich winterlich. Zwar hat es tagsüber getaut, aber nachts ist es noch bis zu -10 grad kalt geworden. Seit Mitte letzter Woche hat es nicht mehr gefroren und heute waren es plötzlich über +20°! Die Vögel haben geschwitzert, die Leute sind luftig bekleidet durch die Straßen flaniert und als ich Abends um 9 nach Hause gekommen bin, waren außergewöhnlich viele besoffene Menschen unterwegs. Angeblich wird hier im Sommer eine einzige riesige Open-Air-Party gefeiert (viele Clubs schließen in den Sommermonaten sogar, weil die Leute entweder auf ihren Datschen sind oder draußen feiern) und das waren wohl die ersten Vorläufer davon. Mich haben die heutigen Temperaturen kleidungstechnisch echt in Probleme gebracht. Ich bin es einfach nicht mehr gewohnt, mich nicht wintertauglich zu kleiden. Skeptisch habe ich heute erstmals eine dünne Strumpfhose angezogen und den Wintermantel zu Hause gelassen. Aber selbst meine Fleecejacke war noch zu warm, so dass ich letztendlich ohne Jacke rumgelaufen bin.
Trümmerfeld Spielplatz
 Das Abstruse an den jetzigen Temperaturen ist jedoch, dass die nicht-regulierbare Fernheizung noch immer auf Hochtouren arbeitet und man sich deshalb drinnen zu Tode schwitzt. Heute Nacht werde ich wohl mit offenem Fenster schlafen, wo bei mein Öko-Herz fürchterlich schmerzen wird.

Montag, 9. April 2012

Das Sammelfieber hat mich ergriffen

Die Russen haben neben Wodka, Mayonaise-Salaten und Süßigkeiten eine weitere Leidenschaft, die die drei vorhergegangenen in den Schatten stellt: Kühlschrank-Magneten.
Genau diese Teile, bei denen man sich in den Souvenir-Shops der Welt immer fragt, wer sie kauft. Jetzt weiß ich es: Die Russen. Anfangs dachte ich es wäre nur ein Tick einiger Weniger. Yury, zum Beispiel, ist ein Weltenbummler und an seinem Kühlschrank ist kaum noch ein freies Plätzchen. Mittlerweile musste ich allerdings feststellen, dass die Kühlschrank-Magnet-Sammel-Leidenschaft ein weit verbreitetes Phänomen in Russland ist. Egal in welche Wohnung man kommt, es prangen Magneten an den Kühlschränken. Keine nichtssagenden Smiley-Magneten, sondern Reisesouvenirs: Die Miniatur-Keramik-Weinflasche aus Sevilla neben dem kitschigen Sonnenungergangsbild aus Sotchi. Es scheint dabei keine große Rolle zu spielen, ob man selbst dort gewesen ist. Wann immer wir Freiwilligen irgendwohin verreisen, werden wir gebeten, Magneten mitzubringen. Auf meiner bisher einzigen großen Reise nach Suzdal habe ich noch traditionelles Honigbier aus der Region mitgebracht, aber ein Magnet hätte wahrscheinlich mehr Begeisterung ausgelöst.
Die Krönung der Magneten-Sammler-Gilde hat vor kurzem Martin mitgebracht. Er war für zwei Wochen bei Freunden in Dublin. In den letzten Tagen vor der Reise hat er Leuten nur noch erzählt, dass er verreist und nicht mehr wohin, weil bei den Worten "Irland" und "Dublin" alle zuerst immer einen sehnsüchtigen Seufzer ausgestossen haben und ihn dann gefragt haben, ob er ihnen nicht einen Magneten mitbringen könnte. Nach zwei Wochen ist er wiedergekommen mit zwei Guiness für Kevin und mich und ungefähr 30 Magneten, die er an alle interessenten verteilt hat.
Das dumme an Sammelgegenständen ist, dass sie mich leider nicht kalt lassen. Während ich mich also noch darüber lustig mache, überlege ich insgeheim schon, woher ich in den nächsten Monaten noch Magnete bekommen könnte. Die ersten Magnete, die ich selbst geschenkt bekommen habe, sind noch irgendwo in der Ecke gelandet. Doch irgendwann habe ich sie an den Kühlschrank gepinnt und seitdem ist in mir der Entschluss gereift, wenigstens die Kühfachklappe komplett mit Magneten zu bedecken.
Wenn ich also im Mai nach Hause komme gibt es also eine Sache, die ich neben Sommerkleidung und Lese-Nachschub wieder mit nach Russland nehme: Kühlschrank-Magneten aus Hamburg und Bremen!
Unsere Errungenschaften bis jetzt: Ganz oft Togliatti/Lada, drei mal Neujahr, aber auch Magneten mit gehobenem Wert (Archangelsker Oblast [der aus Holz, Mitbringsel von Zhenya], Varna, Dublin)
Morosilka heißt übrigens Tiefkühlfach und ist einer von vielen Lernzetteln in unserer Wohnung

Donnerstag, 5. April 2012

Warum Russland? Hattest du keine andere Wahl?!?

"May I ask you one question..." Wann immer jemand so an mich herantritt, weiß ich schon, was folgt. Es hat keinen Sinn, das Fragerecht abzuschlagen, weil das unvermeidliche ohnehin folgt: Die Frage, warum es mich ausgerechnet nach Russland verschlagen hat. Der Wortlaut ist leichten Variationen unterlegen ("Musstest du Russland wählen?", "Was interessiert dich gerade an Russland?", "Warum hast du Russland gewählt?"), aber der Sinn bleibt immer gleich. Von Zeit zu Zeit findet sich jemand, für den es anscheinend keine große Überraschung ist, dass man freiwillig längere Zeit in Russland verbringt. Sie stellen dann allerdings obengenannten Fragen und tauschen das Wort Russland gegen Togliatti aus.
Ich kenne diese Fragen. Aus Rumänien, aus Deutschland, ich habe mich sogar oft selbst dabei ertappt, wie ich sie Ausländern in Deutschland gestellt habe, obwohl ich mir geschworen habe es nie zu tun. Das Interesse daran, was eine Person bewegt, gerade in mein Heimatland zu ziehen, ist einfach zu groß, auch wenn ich weiß, dass die Antwort eine lange zurechtgelegte, oft erprobte, an früher erlebte Gegenreaktionen angepasste Phrase ist.
Wer die Frage nach der Landeswahl stellt, hat meistens ein Bild von seinem Land und dem Land des Gegenübers im Kopf und erwartet einen Antwort, die an dieses Bild angepasst ist. Da die Länderstereotypen in der Regel leicht voraussagbar sind und von Person zu Person kaum variieren, ist es sehr einfach, Standardantworten zu finden. Gründe die man für die Wahl Deutschlands angibt, sind: 1. "die Sprache, die so ungeheuer wichtig ist", 2. "die Kultur, die einen schon immer interessiert hat" und 3. "Deutschland ist eine so wichtige politische und wirtschaftliche Macht (nicht nur in Europa!), es wird mir weiterhelfen, dass ich längere Zeit in diesem Land gelebt zu haben". Kein Grund, "nette Menschen" oder "wunderschöne Natur" zu erwähnen. Das ist sowieso nicht das, was die Deutschen hören wollen.
In Rumänien war meine Standardantwort: "Ich studiere hier und Rumänien ist ein wunderschönes Land mit netten Leuten." Das hat die meisten Fragensteller befriedigt. Die Rumänen wissen, dass sie in einem der schönsten Länder Europas leben, und haben sonst keine besonders gute Meinung von ihrem Land.
Wer einmal selbst eine Standardantwort geformt hat, stellt auch fest, dass man eines vermeiden sollte: Das Land kritisieren. Selbst wenn jeder Taxifahrer auf die Standardantwort entgegnet, dass das Land vor die Hunde gehe und von korrupten, unfähigen Politikern regiert würde [ich lasse hier mal offen, ob ich Rumänien oder Deutschland meine...], das Recht auf Kritik ist ausschließlich den Bürgern des Landes selbst vorbehalten. Hält man sich nicht an dieses unausgesprochene Gesetz, ist mit einem Schwall von Patriotismus zu rechnen.
In Russland habe ich lange gebraucht, um meine Standardantwort zurechtzulegen. Und um ehrlich zu sein, ich feile immer noch daran.
Das einzige, auf das vorbehaltlos alle Russen stolz sind, sind die großen Russischen Literaten (Puschkin, Tolstoi, Dostojewski und zwar genau in dieser Reihenfolge). Allerdings klingt es für eine 25-jährige dann doch etwas weltfremd, wenn ich erzähle, dass mir erstmals beim Lesen von "Krieg und Frieden" der Gedanke gekommen ist, Russland näher kennen lernen zu wollen. Diese Antwortvariante fällt also weg, auch wenn ich festgestellt habe, dass mein Ansehen ungemein steigt, sobald man feststellt, dass ich diverse russische Klassiker gelesen habe.
Die Sache mit der Natur kommt auch nicht in Frage. Russlands Natur ist interessant. Sie erinnert mich manchmal ein bisschen an zu Hause mit den weiten Ebenen, den Birken und Kiefern. Am längsten Fluss Europas, am größten Stausee Europas zu leben ist unbeschreiblich. Aber "schön" ist Russlands Natur nicht. Zumindest nicht so schön wie Rumänien.
Ähnliches gilt für die Menschen. Es gibt das Vorurteil, Russen seien besonders gastfreundliche und herzliche Menschen. Die Russen selbst haben die gleiche Meinung von sich. Potenziell ist hier also ein gutes Feld für eine Standardantwort. Das Problem ist nur, dass ich in den ersten Monaten hier oft genau das Gegenteil erlebt habe und sich so bei mir eingebrannt hat, dass die Russen eines der abweisendsten und kältesten Völker der Welt sind. Klar, man wird als Gast überall freundlich empfangen und mit höchster Aufmerksamkeit und Ehre behandelt, aber all das ist eher eine ritualisierte, aufgesetzte Form der Gastfreundschaft. Auf der anderen Seite wurde mir im Alltagsleben (mit wenigen Ausnahmen) häufig mit Misstrauen und Distanz begegnet. Das essenzielle der Gastfreundschaft ist für mich, dass man offen auf Fremde zugeht und vor allem mit ihnen kommuniziert. In den meisten Ländern, in denen ich bis jetzt war, reagieren Menschen neugierig, wenn sie hören, dass jemand eine fremde Sprache spricht. In Rumänien scheut man keinerlei Kontaktaufnahme und selbst im kleinen Sandbostel, wo die Englischkenntnisse in ungefähr auf russischem Niveau sind, ist man neugierig und lässt nach ein paar Bier alle Hemmschwellen hinter sich. Die einzigen, die hier in Russland Neugier zeigen, sind Kinder. Mit dem Lebensalter steigt auch das Abwehrverhalten gegenüber Fremden. Angefangen bei der Schüchternheit der Jugendlichen und Studenten, über die Ignoranz der Mit-Dreißiger und -Vierziger bis hin zur offenen Unfreundlichkeit der Senioren (wobei die glaube ich selbst gegenüber ihren Landsleuten rücksichtslos sind). Anfangs habe ich dieses Verhalten für Rassismus gehalten. Mittlerweile würde ich sagen, dass es das Wort "Fremdenfeindlichkeit" wohl besser trifft, denn je mehr ich Russisch spreche und verstehe, desto mehr bekomme ich die Herzlichkeit zu spüren. Mittlerweile fällt es mir leichter etwas Positives über die russische Mentalität zu sagen, aber so ganz weggewischt sind die Eindrücke der ersten Monate noch nicht.
Bleibt als Material für eine Standardantwort also nur noch die Sprache. Und die ist tatsächlich einer der Hauptgründe aus denen ich mich für Russland entschieden habe. Egal wie viele Leute jetzt anfangen Chinesisch und Arabisch zu lernen, Russisch ist und bleibt einfach eine Weltsprache. Insgeheim denke ich manchmal daran, wie großartig es klingen würde, wenn ich irgendwann mal sagen kann könnte, dass ich Deutsch, Englisch, Französisch, Rumänisch und Russisch spreche, und beim Gedanken daran fühle ich mich jetzt schon polyglott :) Allerdings sträube ich mich etwas dagegen, gegenüber den Russen zuzugeben, dass ihre Sprache so wichtig ist, weil ich gleichzeitig laufend predige, dass sie unbedingt ihr Englisch verbessern müssen.