"May I ask you one
question..." Wann immer jemand so an mich herantritt, weiß ich
schon, was folgt. Es hat keinen Sinn, das Fragerecht abzuschlagen, weil das
unvermeidliche ohnehin folgt: Die Frage, warum es mich ausgerechnet nach
Russland verschlagen hat. Der Wortlaut ist leichten Variationen unterlegen
("Musstest du Russland wählen?", "Was interessiert dich gerade
an Russland?", "Warum hast du Russland gewählt?"), aber der Sinn
bleibt immer gleich. Von Zeit zu Zeit findet sich jemand, für den es anscheinend
keine große Überraschung ist, dass man freiwillig längere Zeit in Russland
verbringt. Sie stellen dann allerdings obengenannten Fragen und tauschen das
Wort Russland gegen Togliatti aus.
Ich kenne diese Fragen. Aus Rumänien, aus Deutschland, ich habe mich sogar
oft selbst dabei ertappt, wie ich sie Ausländern in Deutschland gestellt habe,
obwohl ich mir geschworen habe es nie zu tun. Das Interesse daran, was eine
Person bewegt, gerade in mein Heimatland zu ziehen, ist einfach zu groß, auch
wenn ich weiß, dass die Antwort eine lange zurechtgelegte, oft erprobte, an
früher erlebte Gegenreaktionen angepasste Phrase ist.
Wer die Frage nach der Landeswahl stellt, hat meistens ein Bild von seinem
Land und dem Land des Gegenübers im Kopf und erwartet einen Antwort, die an
dieses Bild angepasst ist. Da die Länderstereotypen in der Regel leicht voraussagbar
sind und von Person zu Person kaum variieren, ist es sehr einfach,
Standardantworten zu finden. Gründe die man für die Wahl Deutschlands angibt,
sind: 1. "die Sprache, die so ungeheuer wichtig ist", 2. "die
Kultur, die einen schon immer interessiert hat" und 3. "Deutschland
ist eine so wichtige politische und wirtschaftliche Macht (nicht nur in
Europa!), es wird mir weiterhelfen, dass ich längere Zeit in diesem Land gelebt
zu haben". Kein Grund, "nette Menschen" oder "wunderschöne
Natur" zu erwähnen. Das ist sowieso nicht das, was die Deutschen hören
wollen.
In Rumänien war meine Standardantwort: "Ich studiere hier und Rumänien
ist ein wunderschönes Land mit netten Leuten." Das hat die meisten
Fragensteller befriedigt. Die Rumänen wissen, dass sie in einem der schönsten
Länder Europas leben, und haben sonst keine besonders gute Meinung von ihrem
Land.
Wer einmal selbst eine Standardantwort geformt hat, stellt auch fest, dass
man eines vermeiden sollte: Das Land kritisieren. Selbst wenn jeder Taxifahrer
auf die Standardantwort entgegnet, dass das Land vor die Hunde gehe und von
korrupten, unfähigen Politikern regiert würde
[ich lasse hier mal offen, ob
ich Rumänien oder Deutschland meine...], das Recht auf Kritik ist
ausschließlich den Bürgern des Landes selbst vorbehalten. Hält man sich nicht
an dieses unausgesprochene Gesetz, ist mit einem Schwall von Patriotismus zu
rechnen.
In Russland habe ich lange gebraucht, um meine Standardantwort
zurechtzulegen. Und um ehrlich zu sein, ich feile immer noch daran.
Das einzige, auf das vorbehaltlos alle Russen stolz sind, sind die großen
Russischen Literaten (Puschkin, Tolstoi, Dostojewski und zwar genau in dieser
Reihenfolge). Allerdings klingt es für eine 25-jährige dann doch etwas
weltfremd, wenn ich erzähle, dass mir erstmals beim Lesen von "Krieg und
Frieden" der Gedanke gekommen ist, Russland näher kennen lernen zu wollen.
Diese Antwortvariante fällt also weg, auch wenn ich festgestellt habe, dass
mein Ansehen ungemein steigt, sobald man feststellt, dass ich diverse russische
Klassiker gelesen habe.
Die Sache mit der Natur kommt auch nicht in Frage. Russlands Natur ist
interessant. Sie erinnert mich manchmal ein bisschen an zu Hause mit den weiten
Ebenen, den Birken und Kiefern. Am längsten Fluss Europas, am größten Stausee
Europas zu leben ist unbeschreiblich. Aber "schön" ist Russlands
Natur nicht. Zumindest nicht so schön wie Rumänien.
Ähnliches gilt für die Menschen. Es gibt das Vorurteil, Russen seien
besonders gastfreundliche und herzliche Menschen. Die Russen selbst haben die
gleiche Meinung von sich. Potenziell ist hier also ein gutes Feld für eine
Standardantwort. Das Problem ist nur, dass ich in den ersten Monaten hier oft
genau das Gegenteil erlebt habe und sich so bei mir eingebrannt hat, dass die
Russen eines der abweisendsten und kältesten Völker der Welt sind. Klar, man
wird als Gast überall freundlich empfangen und mit höchster Aufmerksamkeit und
Ehre behandelt, aber all das ist eher eine ritualisierte, aufgesetzte Form der
Gastfreundschaft. Auf der anderen Seite wurde mir im Alltagsleben (mit wenigen
Ausnahmen) häufig mit Misstrauen und Distanz begegnet. Das essenzielle der
Gastfreundschaft ist für mich, dass man offen auf Fremde zugeht und vor allem
mit ihnen kommuniziert. In den meisten Ländern, in denen ich bis jetzt war,
reagieren Menschen neugierig, wenn sie hören, dass jemand eine fremde Sprache
spricht. In Rumänien scheut man keinerlei Kontaktaufnahme und selbst im kleinen
Sandbostel, wo die Englischkenntnisse in ungefähr auf russischem Niveau sind,
ist man neugierig und lässt nach ein paar Bier alle Hemmschwellen hinter sich.
Die einzigen, die hier in Russland Neugier zeigen, sind Kinder. Mit dem
Lebensalter steigt auch das Abwehrverhalten gegenüber Fremden. Angefangen bei
der Schüchternheit der Jugendlichen und Studenten, über die Ignoranz der
Mit-Dreißiger und -Vierziger bis hin zur offenen Unfreundlichkeit der Senioren
(wobei die glaube ich selbst gegenüber ihren Landsleuten rücksichtslos sind).
Anfangs habe ich dieses Verhalten für Rassismus gehalten. Mittlerweile würde
ich sagen, dass es das Wort "Fremdenfeindlichkeit" wohl besser
trifft, denn je mehr ich Russisch spreche und verstehe, desto mehr bekomme ich
die Herzlichkeit zu spüren. Mittlerweile fällt es mir leichter etwas Positives
über die russische Mentalität zu sagen, aber so ganz weggewischt sind die
Eindrücke der ersten Monate noch nicht.
Bleibt als Material für eine Standardantwort also nur noch die Sprache. Und
die ist tatsächlich einer der Hauptgründe aus denen ich mich für Russland
entschieden habe. Egal wie viele Leute jetzt anfangen Chinesisch und Arabisch
zu lernen, Russisch ist und bleibt einfach eine Weltsprache. Insgeheim denke
ich manchmal daran, wie großartig es klingen würde, wenn ich irgendwann mal
sagen kann könnte, dass ich Deutsch, Englisch, Französisch, Rumänisch und
Russisch spreche, und beim Gedanken daran fühle ich mich jetzt schon polyglott
:) Allerdings sträube ich mich etwas dagegen, gegenüber den Russen zuzugeben,
dass ihre Sprache so wichtig ist, weil ich gleichzeitig laufend predige, dass
sie unbedingt ihr Englisch verbessern müssen.