Donnerstag, 5. April 2012

Warum Russland? Hattest du keine andere Wahl?!?

"May I ask you one question..." Wann immer jemand so an mich herantritt, weiß ich schon, was folgt. Es hat keinen Sinn, das Fragerecht abzuschlagen, weil das unvermeidliche ohnehin folgt: Die Frage, warum es mich ausgerechnet nach Russland verschlagen hat. Der Wortlaut ist leichten Variationen unterlegen ("Musstest du Russland wählen?", "Was interessiert dich gerade an Russland?", "Warum hast du Russland gewählt?"), aber der Sinn bleibt immer gleich. Von Zeit zu Zeit findet sich jemand, für den es anscheinend keine große Überraschung ist, dass man freiwillig längere Zeit in Russland verbringt. Sie stellen dann allerdings obengenannten Fragen und tauschen das Wort Russland gegen Togliatti aus.
Ich kenne diese Fragen. Aus Rumänien, aus Deutschland, ich habe mich sogar oft selbst dabei ertappt, wie ich sie Ausländern in Deutschland gestellt habe, obwohl ich mir geschworen habe es nie zu tun. Das Interesse daran, was eine Person bewegt, gerade in mein Heimatland zu ziehen, ist einfach zu groß, auch wenn ich weiß, dass die Antwort eine lange zurechtgelegte, oft erprobte, an früher erlebte Gegenreaktionen angepasste Phrase ist.
Wer die Frage nach der Landeswahl stellt, hat meistens ein Bild von seinem Land und dem Land des Gegenübers im Kopf und erwartet einen Antwort, die an dieses Bild angepasst ist. Da die Länderstereotypen in der Regel leicht voraussagbar sind und von Person zu Person kaum variieren, ist es sehr einfach, Standardantworten zu finden. Gründe die man für die Wahl Deutschlands angibt, sind: 1. "die Sprache, die so ungeheuer wichtig ist", 2. "die Kultur, die einen schon immer interessiert hat" und 3. "Deutschland ist eine so wichtige politische und wirtschaftliche Macht (nicht nur in Europa!), es wird mir weiterhelfen, dass ich längere Zeit in diesem Land gelebt zu haben". Kein Grund, "nette Menschen" oder "wunderschöne Natur" zu erwähnen. Das ist sowieso nicht das, was die Deutschen hören wollen.
In Rumänien war meine Standardantwort: "Ich studiere hier und Rumänien ist ein wunderschönes Land mit netten Leuten." Das hat die meisten Fragensteller befriedigt. Die Rumänen wissen, dass sie in einem der schönsten Länder Europas leben, und haben sonst keine besonders gute Meinung von ihrem Land.
Wer einmal selbst eine Standardantwort geformt hat, stellt auch fest, dass man eines vermeiden sollte: Das Land kritisieren. Selbst wenn jeder Taxifahrer auf die Standardantwort entgegnet, dass das Land vor die Hunde gehe und von korrupten, unfähigen Politikern regiert würde [ich lasse hier mal offen, ob ich Rumänien oder Deutschland meine...], das Recht auf Kritik ist ausschließlich den Bürgern des Landes selbst vorbehalten. Hält man sich nicht an dieses unausgesprochene Gesetz, ist mit einem Schwall von Patriotismus zu rechnen.
In Russland habe ich lange gebraucht, um meine Standardantwort zurechtzulegen. Und um ehrlich zu sein, ich feile immer noch daran.
Das einzige, auf das vorbehaltlos alle Russen stolz sind, sind die großen Russischen Literaten (Puschkin, Tolstoi, Dostojewski und zwar genau in dieser Reihenfolge). Allerdings klingt es für eine 25-jährige dann doch etwas weltfremd, wenn ich erzähle, dass mir erstmals beim Lesen von "Krieg und Frieden" der Gedanke gekommen ist, Russland näher kennen lernen zu wollen. Diese Antwortvariante fällt also weg, auch wenn ich festgestellt habe, dass mein Ansehen ungemein steigt, sobald man feststellt, dass ich diverse russische Klassiker gelesen habe.
Die Sache mit der Natur kommt auch nicht in Frage. Russlands Natur ist interessant. Sie erinnert mich manchmal ein bisschen an zu Hause mit den weiten Ebenen, den Birken und Kiefern. Am längsten Fluss Europas, am größten Stausee Europas zu leben ist unbeschreiblich. Aber "schön" ist Russlands Natur nicht. Zumindest nicht so schön wie Rumänien.
Ähnliches gilt für die Menschen. Es gibt das Vorurteil, Russen seien besonders gastfreundliche und herzliche Menschen. Die Russen selbst haben die gleiche Meinung von sich. Potenziell ist hier also ein gutes Feld für eine Standardantwort. Das Problem ist nur, dass ich in den ersten Monaten hier oft genau das Gegenteil erlebt habe und sich so bei mir eingebrannt hat, dass die Russen eines der abweisendsten und kältesten Völker der Welt sind. Klar, man wird als Gast überall freundlich empfangen und mit höchster Aufmerksamkeit und Ehre behandelt, aber all das ist eher eine ritualisierte, aufgesetzte Form der Gastfreundschaft. Auf der anderen Seite wurde mir im Alltagsleben (mit wenigen Ausnahmen) häufig mit Misstrauen und Distanz begegnet. Das essenzielle der Gastfreundschaft ist für mich, dass man offen auf Fremde zugeht und vor allem mit ihnen kommuniziert. In den meisten Ländern, in denen ich bis jetzt war, reagieren Menschen neugierig, wenn sie hören, dass jemand eine fremde Sprache spricht. In Rumänien scheut man keinerlei Kontaktaufnahme und selbst im kleinen Sandbostel, wo die Englischkenntnisse in ungefähr auf russischem Niveau sind, ist man neugierig und lässt nach ein paar Bier alle Hemmschwellen hinter sich. Die einzigen, die hier in Russland Neugier zeigen, sind Kinder. Mit dem Lebensalter steigt auch das Abwehrverhalten gegenüber Fremden. Angefangen bei der Schüchternheit der Jugendlichen und Studenten, über die Ignoranz der Mit-Dreißiger und -Vierziger bis hin zur offenen Unfreundlichkeit der Senioren (wobei die glaube ich selbst gegenüber ihren Landsleuten rücksichtslos sind). Anfangs habe ich dieses Verhalten für Rassismus gehalten. Mittlerweile würde ich sagen, dass es das Wort "Fremdenfeindlichkeit" wohl besser trifft, denn je mehr ich Russisch spreche und verstehe, desto mehr bekomme ich die Herzlichkeit zu spüren. Mittlerweile fällt es mir leichter etwas Positives über die russische Mentalität zu sagen, aber so ganz weggewischt sind die Eindrücke der ersten Monate noch nicht.
Bleibt als Material für eine Standardantwort also nur noch die Sprache. Und die ist tatsächlich einer der Hauptgründe aus denen ich mich für Russland entschieden habe. Egal wie viele Leute jetzt anfangen Chinesisch und Arabisch zu lernen, Russisch ist und bleibt einfach eine Weltsprache. Insgeheim denke ich manchmal daran, wie großartig es klingen würde, wenn ich irgendwann mal sagen kann könnte, dass ich Deutsch, Englisch, Französisch, Rumänisch und Russisch spreche, und beim Gedanken daran fühle ich mich jetzt schon polyglott :) Allerdings sträube ich mich etwas dagegen, gegenüber den Russen zuzugeben, dass ihre Sprache so wichtig ist, weil ich gleichzeitig laufend predige, dass sie unbedingt ihr Englisch verbessern müssen.

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