Dienstag, 21. Februar 2012

Die Nationen Russlands (zu Besuch in Togliatti)

Bei der Recherche für meine Diplomarbeit über die Republik Moldau habe ich mich zeitweise auch mit der sowjetischen Strategie in der National- und Kulturpolitik befasst. Das Grundelement dieser Strategie war, den unzähligen Nationen eine gewisse Eigenständigkeit zuzugestehen, dabei aber immer die Unterordnung unter das sowjetische Gesamtkonstrukt zu betonen, in dem das Russische die klare Vorherrschaft hatte. Die Eigenständigkeit wurde dementsprechend auch auf das Folkloristische reduziert - moldauische Mädchen und Wein sind gut, aber bloß kein Rumänisch im öffentlichen Leben.
Nein, keine Piraten, sondern Menschen aus Dagestan (wie russische Jugendliche sie sich vorstellen)
Ein Teil dieser Mentalität hat sich noch ins heutige Russland gerettet. Die ehemaligen Sowjetrepubliken werden mit Argwohn betrachtet: Das Baltikum gilt als an Europa verloren. Die Ukraine ist Russland (genauergenommen die Perle Russlands), genauso wie Belarus (wobei die nicht die Perle sind, weil sie diesen Verrückten haben, der so Verzweifelt die Nähe zu Russland sucht, dass es schon fast widerlich ist). Moldova? Was war das noch mal? Dann gibt es die Republiken im schönen Süden am Schwarzen Meer und am Kaspischen Meer, die eigentlich doch viel lieber zu Russland gehören würden (Deshalb hat Russland auch seine Armee zur Befreiung der Unterdrückten geschickt). Und natürlich die -stan-Länder (Kasachstan, Turkmenistan etc.), aus denen die ganzen schlitzäugigen Einwanderer kommen, die nur danach trachten den Russen die Arbeitsplätze zu nehmen. Für die Nationalitäten, die noch heute Teil Russlands sind, gilt Ähnliches wie noch zu Sowjetzeiten: So lange sie ihre Kultur nur als Folklore ausleben, sind sie gerne gesehen, aber sobald sie Forderungen nach Unabhängigkeit stellen, sind sie Terroristen. Während man bei uns vor allem von Tschetschenien gehört hat, steht hier vor allem Dagestan (die Nachbarregion) im Fokus. Die Erwähnung des Namens ruft glaube ich selbst bei den tolerantesten und liberalsten Menschen ein Bild von bis unter die Zähne bewaffneten (ganz wichtig: der Dolch) Islamisten hervor, die nicht davor zurückschrecken einen unbescholtenen Bürger hinterrücks im Dunkeln nieder  zu stechen.

Russifiziert für einen Nachmittag
Baschkiren
Lange Vorgeschichte um endlich zu dem zu kommen, was ich eigentlich schreiben wollte. Am vorletzten Wochenende haben wir am "Festival der russischen Nationen" teilgenommen, das von den Chance Jugendhäusern organisiert wurde. Der clevere Leser begreift jetzt, den Sinn der ganzen Vorgeschichte. Wie immer in Russland war das ganze ein Wettbewerb. Die Kinder und Jugendlichen haben im Vorfeld Puppen in Nationaltrachten gebastelt, die auf nun präsentiert wurden. Es wurde sich verkleidet, es gab ein intellektuelles Spiel  - äußerst beliebt: dabei werden in Teams Fragen beantwortet wie bei "Wer wird Millionär" - zum Thema Nationen. Es wurden Wappen und Traditionen vorgestellt und am Ende wurden traditionelle Tänze vorgeführt. Wir haben schon Wochen vorher mit den Kindern Puppen gebastelt: eine bulgarische Ivanka und einen bayrischen Wolfgang (den Namen hat Martin sich ausgesucht). Ja, es musste ein Bayer sein, weil das Leider das Bild ist, das man von uns Deutschen in Russland hat. Alle Erklärungen, dass weder ich noch Kevin aus Bayern kommen, waren vergebens.
Unsere Puppen sind allerdings außer Konkurrenz gelaufen. Stattdessen saßen wir in der Jury - zusammen mit zwei echten Kosaken! Die beiden waren echt nett, so dass der Nachmittag doch nicht komplett langweilig geworden ist. Am Anfang wollten sie uns noch erklären welche Rolle die Kosaken im 2. Weltkrieg gespielt haben, aber am Ende haben wir zusammen tartarisches Tschak-Tschak gegessen. Der Höhepunkt des Ganzen war dann allerdings, dass wir Freiwilligen zum Abschluss ein russischen (Trink-)Lied gesunden haben: Ой, Мороз, Мороз.
Ivanka (aus Bulgarien) mit ihrem bayrischen Mann Wolfgang

Freitag, 17. Februar 2012

Das Abenteuer, die russische Sprache zu lernen

Vor ein paar Tagen saß ich morgens in der Küche und habe mit Ludmilla (unserer Gasttante) gefrühstückt. Wir haben uns über unseren Tag und die Pläne für die Woche unterhalten, sie hat gefragt, wie es meiner Familie geht und ob wir heute Abend besuch mit nach Hause bringen würden. Eine ganz normale Unterhaltung. Allerdings spricht Ludmilla nur russisch und die Tatsache, dass ich eine ganz normale (wenn auch etwas holprige) Unterhaltung mit ihr führen kann, macht mich etwas stolz auf mich selbst. 
Als ich nach Russland gekommen bin, konnte ich lediglich das russische Alphabet lesen. In den ersten Wochen habe ich mich ständig verloren gefühlt, weil ich mit niemandem kommunizieren konnte; nicht einmal ein paar Worte austauschen konnte - mit Englisch kommt man hier nämlich auch nicht weiter. Mitte Dezember hatte ich schon jede Hoffnung aufgegeben, jemals Russisch zu lernen, doch dann kam die Erlösung: Seit unserer Ankunft,  hatten Kevin und ich alle Leute mit unserer Forderung nach einem Sprachkurs, der uns laut Vertrag zusteht, genervt. Und nun kam endlich eine kaum noch zu erwartende Nachricht: eine Dozentin für Russische Linguistik würde sich bereiterklären uns Unterricht zu erteilen. Zur gleichen Zeit bot uns eine Dozentin der deutschen Fakultät an, uns zu unterrichten. Seitdem haben wir 1-2 mal pro Woche für zwei Stunden Russischunterricht und es geht bergauf! Anfang Januar habe ich festgestellt, dass ich fast alles verstehe, wenn sich zwei Personen auf Russisch unterhalten. Mittlerweile spreche ich auch selbst einigermaßen. Ich habe zwar einen sehr starken Dialekt (wie glaube ich jeder, der Russisch nicht als Muttersprache spricht) und meine Sätze sind voll von Fehlern oder es sind nicht einmal komplette Sätze, aber man versteht mich, wenn es sein muss. Ich kann, wie man so schön sagt, "meinen Alltag meistern".
Die Illusion, dass ich Russisch perfekt lernen könnte, habe ich schon verloren, aber ich glaube, dass ich bis zum Sommer zumindest ansatzweise fließend sprechen werde. Perfektion ist schon deshalb nicht zu erreichen, weil Russisch zwar in einigen Bereichen wesentlich simpler ist als alle anderen Sprachen, die ich bisher gelernt habe, dafür aber teilweise wieder extrem komplex ist. Es gibt zum Beispiel das Wort "sein" nicht. Man sagt "Ich Anne". Ich hatte anfangs immer das Gefühl, dass ich keine ganzen Sätze spreche, aber mittlerweile bin ich ganz froh, dass es so einfach ist. Außerdem gibt es nur drei Zeitformen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und die sind noch dazu extrem einfach zu bilden. Im Gegenzug gibt es allerdings sechs Fälle: Neben den vier deutschen (Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ) noch Instrumental und Präpositional. Das macht es extrem schwierig grammatikalisch korrekte Sätze zu bilden. Selbst wenn man ein Wort kennt, weiß man nicht, welche Endung es in dem gesuchten Zusammenhang hat. Sogar die Namen werden geändert: ich bin je nach Fall Anna, Anne, Anni, Annu oder Annoi. Wenn man dann noch dazunimmt, dass die Wörter oft mit einander verbunden werden (wie im Französischen), hat man dass Gefühl, dass Russisch ein einziger Fluss von Lauten ist, in denen es unmöglich ist, einzelne Wörter rauszuhören.
Was mich schier in den Wahnsinn treibt ist die Betonung, die als unheimlich wichtig gilt: Ein betontes "o" wird zum Beispiel als "o" ausgesprochen, ein unbetontes als "a", teilweise wechselt die betonte Silbe, wenn ein Wort dekliniert wird oder der Plural gebildet wird. Es gibt weiche und harte Versionen von Buchstaben (ich höre meistens keinen Unterschied) und Zeichen (ь ъ), die einen Buchstaben härter oder weicher machen. Und es gibt unheimlich viele Zisch-Laute, die sich alle gleich anhören (ш - sch, щ - schtsch, ж - dsch, ц - tz).
Was mich immer wieder zum Schmunzeln bringt, ist die Art und Weise, wie internationale Begriffe, russifiziert werden. Ein großes Problem stellt immer der Buchstabe "H" dar. Den gibt es nämlich im russischen Alphabet nicht. Am korrektesten ließe sich das "H" wohl mit dem russischen Buchstaben "x" (gesprochen in etwa "ch" wie in "Dach") transkribieren. Die russische Version von Doctor House ist dementsprechend auch "Доктор Хаус" (Doktor Chaus). Aus irgendeinem mir unerklärlichen Grund wird im Regelfall allerdings anstelle des "H"s ein "G" gesetzt, was immer wieder zu witzigen Wortkreationen führt. Ich zum Beispiel komme aus Gamburg, der berühmte Zauberschüler heißt Garry Potter und als ich mit meinen Deutschschülern im Sprachcamp "Ich war noch niemals in New York" für das Abschlusskonzert eingeübt habe, musste ich ihnen ausprügeln, Gawaii anstelle von Hawaii zu singen.
Mal abgesehen davon, dass die meisten Russen (nicht nur Schüler) sowieso grottenschlechte Geographiekenntnis haben, sind Orts- und Ländernamen eine einzige witzige Kategorie für sich selbst. Ich komme wie gesagt aus Gamburg. Wenn ich Hamburg sage, verstehen mich die wenigsten. Paris heißt sonderbarerweise Parisch, Athen kennt man als Afina. Einen Preis bekommt derjenige, der errät, wo Gaiti liegt oder Golland. Die Krönung ist allerdings Texas: Das x wird hier nicht wie zu erwarten als "кс" (ks) transkribiert, sondern mit dem kyrillischen Buchstaben x (Aussprache siehe oben). Texas kennt man hier also nur als Techas. 
Was mich immer wieder erstaunt, ist, wie unglaublich viele deutsch Wörter im russischen gebraucht werden. Zum einen sind dies natürlich viele militärische Begriffe, von denen einige sogar in den Alltagsgebrauch übergegangen sind. Der kleine Raum im Eingangsbereich der Schule, in dem die Herrscherin über alle Schlüssel des Gebäudes den ganzen Tag über gelangweilt rumsitzt, heißt zum Beispiel "вахта" (Wachta) und vor kurzem ist mir klar geworden, dass der Name der kleinen Minibusse "маршрутка" (Marschrutka) vom deutschen "Marschroute" kommt. Aber auch abseits des Militärischen haben es viele Deutsche Wörter ins Alltagsrussisch geschafft: Allgegenwärtig ist das "бутерброд" (Butterbrod), echt witzig mit rollendem "R" gesprochen. Ein beliebter Beruf ist бухгалтер (Buchgalter), wenn man nicht schon бургомистр (Burgomistr) ist. Um nach dem Kochen die картофель (Kartoffel) abzugießen benutze ich ein дуршлаг (Durschlag), es sei denn es ist капут (kaputt). Wer zu schnell mit dem Auto fährt bekommt eine штраф (Schtraf). Silvester gibt es фейерверк (Feierwerk). Wer die Haare schneiden lassen will geht zum парикмахер (Parikmacher, kommt von Perückenmacher, wird aber für Friseur benutzt), wer einen Brief verschicken will zum почтамт (Poschtamt). Auf dem Rücken trage ich einen рюкзак (Rjuksack). In einem Paket Eier sind zwölf штук (Schtuk). Und sowohl Kabel als auch Schnürbänder werden hier шнур (Schnur) genannt. 
Das sind nur ein paar Beispiele. Ich habe noch nie eine Sprache gelernt, in der es so viele deutsche Wörter gibt. Daneben werden im russischen auch viele Englische und Französische Wörter verwendet. Manchmal habe ich das Gefühl, dass dies Sprache komplett aus Fremdwörtern besteht.

Dienstag, 7. Februar 2012

Essen Teil 4: сладкий - Süßes

Zum Einstieg ein kleines Quiz: Was ist das?
Nein, das sind keine Würmer, sondern чак-чак (Tschak-Tschak), eine Art tartarischer Kuchen oder Süßspeise. Also nicht typisch russisch, aber trotzdem typisch für den Süßspeisengeschmack der Russen. Meine allererste Begegnung mit Tschak-Tschak hatte ich bereits während meiner ersten Tage in Russland. Wir waren zu Besuch bei Yuris Familie und in der Küche stand dieses "Ding" rum, das entfernt an ein Gehirn erinnerte. Ich war neugierig und fragte Martin, ob er wüsste, was das sei. Aus seiner Antwort sprach das wahre Entsetzen: "It is the most disgusting thing I ever ate. THEY say it is some kind delicacy. I had to eat it yesterday and it is nothing but pure sugar soaked with fat" (auf Deutsch: "Es ist das widerlichste, das ich jemals gegessen habe! SIE (damit meint er die Russen) sagen, dass es eine Spezialität ist. Ich musste es gestern essen, weil es mir angeboten wurde und es ist nichts als purer Zucker der in Fett getränkt ist". Diese Beschreibung hat mich erst einmal davon abgehalten, Tschak-Tschak zu probieren. Ich habe es zwar immer neugierig betrachtet, mich aber nie rangetraut. Erst nach mehr als zwei Monaten habe ich Zhenyas Tschak-Tschak wohl etwas zu neugierig angeschaut und er hat mir daraufhin etwas angeboten. Im Prinzip hatte Martin mit seiner Beschreibung recht: Ich habe später im Internet gelesen, dass Tschak-Tschak Teig ist, der in kleine Röllchen geformt wird, danach frittiert wird und zuletzt mit einer Zucker-Honig-Mischung übergossen wird. Das Ganze hat eine klebrig-weiche Konsistenz, die an den Zähnen kleben bleibt. Es ist zwar nicht das Leckerste, was ich je gegessen habe, und es ist auch tatsächlich von einer kaum vorstellbaren Süße, aber es ist auch auf keinen Fall widerlich. Und es kann auch echt lecker aussehen (einfach mal чак-чак bei der google Bildersuche eingeben). Martin mag nur einfach kein süßes Essen.
Im Allgemeinen ist hier alles einen kleinen Tick süßer als in Deutschland. Martins Kommentar dazu ist: Russen mögen alles extrem - extrem süß, extrem salzig, extrem viel Knoblauch... (Martin liefert viele Kommentare zu Russischen Lebensgewohnheiten ab). Tee trinkt man nur mit mindestens zwei Löffeln Zucker, Kuchen sehen immer etwas künstlich aus und statt mit Sahne sind sie mit Schokokuss-Creme gefüllt. Bonbons oder Pralinen (конфеты) muss man hier nicht in großen Packungen kaufen, sondern kann sich einzeln etwas abfüllen, so wie in der Gemüseabteilung. Allerdings erscheinen mir selbst die Pralinen süßer als in Deutschland, weshalb ich lange Zeit einen großen Bogen um alles Süße gemacht habe. Nach drei Monaten und etlichen Höflichkeits-Kuchenstücken, die ich nicht ablehnen konnte, habe ich mich etwas an die russische Süße gewöhnt. 
Ich habe mittlerweile sogar einige Dinge entdeckt, die mir gut schmecken und die ich in Deutschland bestimmt vermissen werde. So zum Beispiel козинак (Kosinak). Vom Aussehen leicht zu verwechseln mit Vogelfutter. Es besteht aus Kernen (Sonnenblume oder Sesam) oder Erdnüssen, die mit Honig in Stangenform zusammengeklebt sind. Bei der Recherche bin ich gerade darauf gestoßen, dass es eine georgische Spezialität ist. Es passt also in die Reihe nicht-russischer Spezialitäten, die hier so beliebt sind, dass ich sie schon wieder als typisch Russisch bezeichnen würde. Halva, Baklava und Türkischen Honig bekommt man hier nämlich auch in jedem Supermarkt und ich habe sie schon oft zum Tee angeboten 

Samstag, 4. Februar 2012

Sprachencamp

Es ist zwar schon einige Wochen her, trotzdem möchte ich aber noch über das Sprachencamp schreiben, an dem wir in der ersten Januarwoche teilgenommen haben.
Alles hat damit angefangen, dass wir Mitte Dezember eine 
email bekommen haben, die über drei Ecken an uns weitergeleitet wurde, und in der die Alliance Francaise Togliatti (so etwas wie das Goethe-Institut nur für Französisch) darum gebeten hat, dass wir an ihrem Sprachencamp teilnehmen. Lange war uns unklar, wie die überhaupt darauf gekommen sind, dass wir in Togliatti leben, aber am Ende war es wie immer in dieser Stadt: Jeder kennt irgendwie jeden und schuldet jedem noch einen Gefallen. Anscheinend hat der Direktor der Alliance Francaise den Kontakt zwischen Chance (unsere Organisation) und dem internationalen Büro der Universität hergestellt, das letztendlich alle unsere Visa-Angelegenheiten geregelt hat.
Das Camp hat direkt in 
Togliatti stattgefunden. In einem Ferienlager für Kinder direkt in der "grünen Zone" (so heißt der große Wald mitten in der Stadt an der Wolga). Eine sehr schöne Umgebung also - aus meinem Fenster im dritten Stock konnte ich direkt auf den Fluss blicken.
An dem Camp haben 80 Kinder und Jugendliche im alter von 7-17 Jahren teilgenommen und es war komplett anders organisiert als die 
Camps, bei denen ich bis jetzt mitgearbeitet habe. Das hat schon damit angefangen, dass es eine hauptamtliche Organisatorin gab, die während dem Camp allerdings kaum in Erscheinung getreten ist und mit der ich auch sonst kaum Kontakt hatte, und sonst eigentlich niemand an der Planung beteiligt war. Das hat mich etwas gestört, weil ich eigentlich vollkommen unvorbereitet in die ganze Sache reingegangen bin, was mir überhaupt nicht gefallen hat. Ich hatte vorher weder eine Ahnung, wer die anderen Mitarbeiter sind, noch den Ort gesehen, noch eine genaue Vorstellung wie mein Tag aufgebaut ist und wie ich meinen Aufgabe gestalten soll. Wir hatten eine Besprechung mit der Organisatorin und zwei Wochen vor Campbeginn haben wir das Programm und eine Liste mit mehr oder weniger aussagekräftigen Themen für den Unterricht zugeschickt bekommen.
Meine Aufgabe war es Deutsch zu unterrichten, wie immer die undankbarste Aufgabe überhaupt. 
Kevin drückt sich immer davor Deutsch zu unterrichten, weshalb das immer an mir hängen bleibt. Undankbar ist es deshalb, weil es sowohl in der Schule, an der wir unterrichten, als auch im Camp immer nur sehr wenige Leute gibt, die Deutsch lernen und deren Sprachkenntnisse sind zudem meistens noch sehr schlecht, weil die wenigsten Deutschlehrer hier jemals in Deutschland gewesen sind. Im Camp kam noch dazu, dass alle Kinder zwei Sprachen wählen mussten, die sie im Camp lernen wollten, und viele einfach Deutsch gewählt haben, weil sie weder Deutsch noch Französisch gesprochen haben, man aber für Französisch eine Sprachstandseinstufung machen musste. Ich musste dadurch Schüler, die kein Wort Deutsch gesprochen haben, und Schüler, die seit mehreren Jahren Deutsch lernen und teilweise auch recht gut gesprochen haben, in einer Gruppe integrieren, was letztendlich unmöglich war. Normalerweise hätte ich laufend Deutsch sprechen müssen, um wirklich von Nutzen für die besseren Schüler zu sein, aber dann hätte mich ein Großteil nicht verstanden.
Unterricht mit meiner Lieblingsgruppe, die 10-12 jährigen (Mein "Klassenraum" war der Flur im dritten Stock - etwas ungünstig, weil es Sofas und einen Fernseher, aber dafür nur wenige richtige Stühle und Tische gab, und ständig irgendwelche Leute vorbei gelaufen sind)
Der Aufbau des Camps war strikt nach Verantwortlichkeit getrennt. Es gab Teamleiter, die jeweils zu zweit eine Gruppe von 20 Kindern aufgeteilt nach Altersgruppen geleitet haben. Martin war Teamleiter in der ältesten Gruppe. Was meiner Meinung nach Schade war und dem Konzept eines Sprachcamps etwas widersprochen hat, war, dass von den Teamleitern außer Martin und noch einem Russen niemand wirklich Englisch gesprochen hat. Ich verstehe ja, dass man kleinen 7-10 jährigen Kindern jemanden zur Seite stellen muss, der mit ihnen in ihrer Muttersprache spricht, aber die älteren Gruppen hätten sicher mehr davon profitiert, wenn man rund um die Uhr Englisch mit ihnen gesprochen hätte. Martin hat das in seiner Gruppe durchgezogen und ich habe von vielen Jugendlichen gehört, dass ihnen das gut gefallen hat. Leider war er der einzige, der das machen konnte, wodurch der Großteil der Teilnehmer nur für einen halben Tag (während der Unterrichtszeit) in einem Sprachcamp war und abseits davon Russisch geredet hat. Ich hatte teilweise das Gefühl, dass meine Workcamps im Sommer mindestens genauso viel Sprachcamp sind wie dieses Lager. Was mich auch etwas befremdet hat, war, dass die Teamleiter ihre Gruppen immer unter genauester Beobachtung hatten. Extremstes Beispiel dafür war der Weg vom Wohngebäude zum Essensgebäude, ca. 200 m auf dem eingezäunten Campgelände. Vor jedem Essen haben sich die Gruppen vor dem Wohngebäude gesammelt, wurden durchgezählt und sind dann geschlossen den Weg gegangen - und das Gleiche dann noch mal auf dem Rückweg. Ich habe irgendwann mal erwähnt, dass ich das für etwas übertrieben halte, besonders für die ältesten Gruppen. Mir wurde dann erzählt, dass es im vorherigen Wintercamp einen schrecklichen Vorfall gab: Zwei kleine Mädchen sind heimlich weggelaufen und auf die nahegelegene Wolga gegangen. Sie sind im Eis eingebrochen und ertrunken. Die Mitarbeiterin, die für die Gruppe verantwortlich war, hat eine Gefängnisstrafe von 1,5 Jahren bekommen.
Neben den Teamleitern gab es uns Lehrer: Mich als einzige Deutschlehrerin, Maria (eine Mitarbeiterin der 
Alliance Francaise) und Mael (ein Franzose, der für die Alliance Francaise als Lehrer arbeitet), die französisch unterrichtet haben, und vier Englischlehrer - KevinLewis (aus Südafrika) und Makasa (aus Sambia), die beide in Uljanowks studieren, und Zanda (Maels Freundin aus Lettland). Ich habe erst am Ende des Camps festgestellt, dass wir eigentlich das beste Aushängeschild waren. Hier im tiefsten Russland trifft man nämlich sehr selten auf Ausländer und noch seltener auf Ausländer, die Sprachen unterrichten. Und Alliance francaise konnte damit werben, dass sie für alle Sprachen Muttersprachler als Lehrer haben. Die Krönung des ganzen (auch das habe ich erst am Ende des Camps begriffen) war ich selbst. Ich war nämlich die erste deutsche Deutschlehrerin, die jemals in diesem Camp unterrichtet hat (und es gibt das Camp immerhin schon seit 10 Jahren). Eigentlich sollten wir Lehrer nur unterrichten und sonst keinerlei Verantwortung tragen. Streckenweise habe ich mich tatsächlich wie eine Lehrmaschine gefühlt, wenn von 10 bis 15 Uhr eine Gruppe nach der anderen bei mir durchgeschleust wurde, die alle das gleiche Thema unterrichtet bekommen haben. In der Realität funktioniert lockeres Lernen in so einem Camp aber nur, wenn man sich auch abseits des Unterrichts mit den Kindern beschäftigt. Wir haben deshalb an allen Nicht-Lehraktivitäten teilgenommen - von der Campdisco (jeden Abend! Und die Teilnehmer haben getanzt als gäbe es kein morgen - selbst die älteren) bis hin zum Weihnachtskonzert. Aber ansonsten wäre mir wahrscheinlich auf langweilig geworden, wenn ich immer nur bis 15 Uhr gearbeitet hätte.
In der Kantine - gute Laune trotz schlechtem Essen

Eine Sache, die noch anders war, als ich es von meinen 
Camps gewohnt bin, war, dass hier alles darauf ausgerichtet war, die Kinder zu unterhalten und zu beschäftigen. Die Kinder haben im Gegensatz zu uns Lehrern nicht durchgehend Unterricht gehabt und in ihren Freistunden haben sie Massagen bekommen. Dafür war extra eine Masseuse angestellt. Einen Mitarbeiter hatten wir auch, der nur für die Planung der Freizeitgestaltung zuständig war. Der hat sich ständig neue Sachen einfallen lassen: Ein Märchen verfilmen (die Schneekönigin), einen Ritterkontest (das Oberthema des Camps war "Mittelalter"),... Jeden Abend gab es irgendeinen Ball, ein Konzert oder ähnliches bei dem etwas vorgeführt wurde und leider war Anatolij (der Bespassungs-Mitarbeiter) der Meinung, dass es zu jedem guten Abendprogramm dazu gehört, dass die Lehrer auch einen Auftritt haben. Im Prinzip hatte er Recht, weil unsere Auftritte immer zu den beliebtesten zählten, aber ich bin nun mal einfach keine Rampensau und bin jedesmal fast verzweifelt, wenn wieder mal der Auftrag kam irgendeinen Tanz, ein Lied, einen Zaubertrick etc. vorzubereiten. Das Problem war auch, dass alles immer sehr kurzfristig kam: "Ihr wisst ja, dass morgen Abend die große Gala-Show der Teamleiter und Lehrer ist. Es wäre schön, wenn ihr Lehrer acht Beiträge vorbereiten könntet." - "Acht?!? Bis morgen?!? Reichen nicht auch fünf oder sechs?" - "Nein, eigentlich war das keine Bitte sondern ein Befehl." Er hat übrigens wirklich fließend deutsch gesprochen, weil er im wirklichen Leben Ingenieur ist und für eine Firma arbeitet, deren Zentrale in Deutschland liegt. 
Prinzessinen - der Auftritt der jüngsten Gruppe beim Weihnachtsball
Wir haben also einen großen Teil unserer freien Zeit darauf verwendet irgendwelche Beiträge einzuüben. Zum Glück hatten wir Maria und Mael, die beide ein gewisses Showtalent hatten. Im Nachhinein kann ich sogar sagen, dass das ganze Spaß gemacht hat. Wirklich gut war unser Auftritt beim Weihnachtsball (Weihnachten ist in Russland am 7. Januar und ist deshalb genau in unsere Campzeit gefallen), auf dem alle Gruppen mittelalterliche Tänze aufgeführt haben. Während wir erst einen halben Tag vorher erfahren haben, dass wir überhaupt teilnehmen sollen, haben alle anderen schon Tage vorher dafür geübt. Und wie immer wenn Russen einmal nicht improvisieren sondern etwas planen, ist es eine bombastische Inszenierung geworden: Die jüngsten haben sich ihre Prinzessinenkleider von den Eltern anliefern lassen, eine Gruppe hat eigens mit einer Choreografin gearbeitet, die russischen Teamleiter, die schon länger informiert waren, hatten ihre Ballkleider mitgebracht, die teilweise echt an Barbie-Kleider erinnert haben (nicht wirklich Mittelalter). Nur wir Lehrer hatten natürlich weder Kleider noch eine Choreographie. Nach einem Nachmittag Dauerprobe und Wühlen im Kostümraum des Camps haben wir dann allerdings die beste Vorführung des Abends hingelegt - der Saal hat getobt! :) 
Die besten Lehrer! Nach unserem Auftritt beim Weihnachtsball (v.l.n.r: Maria, Makasa, ich, Lewis, Mael, Kevin, Teilnehmer, der ins Bild gelaufen ist)
Die Teilnehmer des Camps kamen größtenteils aus reichen Familien. Das hat man schon an der Kleidung erkannt und daran, dass ihre Sprachkenntnisse ziemlich gut waren, was normalerweise ein Zeichen dafür ist, dass sie privaten Sprachunterricht neben der Schule erhalten. Ganz klar geworden ist es mir allerdings, als ich gehört habe, wie viel Geld ihre Eltern dafür bezahlen, damit sie an dem Camp teilnehmen dürfen: 10000 Rubel (ca. 250€) für sieben Tage! Und dafür haben die Kinder dann das grauenhafteste Essen vorgesetzt bekommen (siehe vorheriger Beitrag). An einem Tag war das Thema des Unterrichts "Berufe". Ich hatte ein schönes Vokabelblatt vorbereitet mit allen möglichen Berufen und Bildern dazu - die wichtigsten Berufe für meine Kinder waren allerdings nicht darauf. Ich habe nämlich alle gefragt, was ihre Eltern arbeiten. Die häufigsten Antworten waren "Präsident", "Vize-Präsident" und "Direktor". Ein paar "Anwälte" und "Ärzte" gab es auch noch. Ach ja, und jede Menge "Hausfrauen" und "Papas Sekretärinnen".
Durch die gemeinsamen Proben sind wir Lehrer praktisch zu einem richtigen Team 
zusammengeschweißt worden. Und auch mit den Teamleitern haben wir uns trotz Sprachproblemen ganz gut verstanden. Eine Nacht haben wir während des Camps gefeiert. Zu meiner Überraschung mit Wodka und Kognak und das unter Teilnahme der Camporganisatorin. Nach Campende gabs für alle Mitarbeiter eine Runde in der Campeigenen Banja (mit Swimming-Pool!). Und in den Wochen danach haben wir uns noch ein paar mal wieder getroffen und Martin hat angefangen der einen Teamleiterin Englischunterricht zu geben.
Im Sommer wird das Camp zwei mal durchgeführt und dauert jeweils zwei Wochen. Wahrscheinlich werde ich auch einmal wieder mitarbeiten.