Am letzten Montag habe ich eine denkwürdig Nacht verbracht. Wahrscheinlich werde ich davon noch in zwanzig Jahren als witzige Anekdote aus meiner Zeit in Russland berichten. Wenn ich all das, was passiert ist, in der Intensität beschreiben würde, mit der ich es erlebt habe, könnte ich wahrscheinlich einen Roman damit füllen, deshalb werde ich hier nur sehr oberflächlich schreiben und den Rest vielleicht irgendwann mal in lustiger Runde erzählen.
Wir haben in den letzen Wochen häufiger was mit einigen russischen Freiwilligen von Chance unternommen. Ein ziemlich bunter Haufen von witzigen und offenen Menschen. Während die Freunde, die wir bis dahin so kennengelernt haben, dem Alkohol eher negativ gegenüberstanden, erfüllen diese Freiwilligen jedes Vorurteil, dass man in der Hinsicht über Russen haben kann. Partys in ihrem Kreis übertreffen, wie ich feststellen musste, sogar Sandbostler-Dorf-Großevents (Minstedter Woche, Pfingsten etc.). Zumindest, was den Alkoholkonsum angeht.
|
Ein paar von den Leuten, die an dem Abend beteiligt waren. In ihrer Freizeit treten sie mit einer Feuershow in Clubs auf, die wir vorletzte Woche gesehen haben. Vanja, unser Gastgeber ist der zweite von links. |
Einer dieser Freiwilligen, Vanja, muss ab sofort seinen Militärdienst ableisten. Er wird dafür für ein Jahr nach Moskau gehen, was bedeutet, dass er ab sofort eine Tagesreise von Togliatti entfernt wohnt. Er hat uns zu seiner Abschiedsfeier eingeladen mit der Warnung, dass wir uns für den nächsten Tag Nichts vornehmen sollten. Ich habe erwartet, dass es ein großes Besäufnis wird, aber die Realität hat meine Erwartungen bei Weitem übertroffen.
Martin und ich sind alleine auf die Party gegangen, weil Kevin zu der Zeit in Nizhni Novgorod war. Vanjas Familie wohnt in einem kleinen Haus am Rande der Stadt. Und ohne jetzt unverschämt sein zu wollen: Es ist der dreckigste Ort, an dem ich je war. Kevin hat es ganz elegant ausgedrückt: "Es ist beeindruckend wie grundsätzliche Sauberkeitsbedürfnisse bei den Menschen auseinanderklaffen können." Als wir um 1 Uhr Nachts angekommen sind, waren schon alle betrunken. Zwei Männer (einer davon glaube ich Vanjas Vater) lagen die ganze Zeit über bewusstlos/schlafend auf dem Sofa, Dima, ein 17-jähriger Freiwilliger, hat mich nur mit schielendem Blick angesehen, umarmt und ist dann ins Schlafzimmer gegangen. Vanja, unser Gastgeber, war total heiser und hat die ganze Zeit anzügliche Witze gemacht. Leider war sein Englisch gut genug, dass er die auch für mich übersetzen konnte. Dann waren da noch die beiden Nazis. Als ich angekommen bin, haben sie sich schnell ihre T-shirts angezogen (wie taktvoll gegenüber der Deutschen), aber ich habe noch mitbekommen, dass ihre ganzen Oberkörper mit Hakenkreuzen tätowiert waren. Ich, blond, blauäugig und vor allem deutsch, war von da an das Ziel ihrer geballten Charme-Offensive. Die Tatsache, dass der eine gelispelt hat und der andere vor lauter Alkohol geschielt hat, hat die Sache allerdings ganz witzig gemacht. Und ständig haben irgendwelche Leute angefangen sich sinnlos zu prügeln. Meistens ist Vanja, der ein echter Schrank ist, dazwischengegangen. Zwischen alledem war noch Vanjas Freundin, die ständig den Tränen nahe war, weil ihr Liebster sie jetzt für ein Jahr verlassen muss.
Es waren auch Leute da, die nicht ganz so besoffen waren. Nikita und seine Freundin Nastya habe ich an dem Abend erst kennengelernt. Er hat sich die ganze Zeit für alles entschuldigt: Dass alle so besoffen sind, dass man mir immer wieder mit Nachdruck eine große Schüssel mit Fleisch angeboten hat, dass alle um 3 Uhr angefangen haben lauthals die Nationalhymne zu singen etc. Valentin, einer von den Freiwilligen, und ich haben festgestellt, dass wir beide Kollegen sind - als Teamer in Jugendcamps. Und ein bisschen was getrunken habe ich auch - selbstgebrannten Wodka, Samogon. Aber ich habe mich zurückgehalten, weil wir unseren nächsten Tag natürlich nicht frei von Arbeit halten konnten.
Um 5 Uhr morgens ist Vanja in einen komatösen Zustand verfallen. Sie haben vier Leute gebraucht um ihn aus dem Bad aufs Sofa zu tragen.
Morgens um sechs sind so langsam alle wieder aufgewacht. Es gab noch ein Butterbrot (das Wort benutzen die hier wirklich) zum Frühstück. In der total chaotischen Küche habe ich zwischen dreckigen Geschirr und gammeligem Essen ein Gewehr entdeckt, einfach so an den Tisch gelehnt.
Um 7 Uhr gings dann los zum Busbahnhof. Dort angekommen habe ich dann festgestellt, dass wir nicht die einzigen waren, die jemanden verabschiedet haben. Es waren unheimlich viele betrunkene, feiernde Menschen da, die jemanden verabschiedet haben. Ich habe im Nachhinein erfahren, dass es eine russische Tradition ist, sich so in den Militärdienst zu verabschieden. Es gibt sogar ein eigenes Wort dafür. Wir haben dann mehr als eine Stunde in eisiger Kälte verbracht, mehr Alkohol getrunken, Fotos gemacht, gesungen und Vanja in die Luft geschmissen (!) bis er dann endlich auf das Militärgelände gelassen wurde.
Danach sind alle nach Hause gegangen bis auf Martin und ich. Wir sind direkt weitergefahren zur Arbeit, wo wir ein Radiointerview geben mussten. Ich habe mein Schlafdefizit bis heute noch nicht aufgeholt, aber das lässt sich verschmerzen bei so einer Nacht.